sabinewaldmannbrun

Farbe. Linie. Sehen.


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Pfingstferienaktivitäten…

Wie immer über die Feiertage und drumherum ist die chirurgische Arbeit bunt und vielfältig, auch herrscht ziemlicher Rummel in der Notfallversorgung. Nachdem wohlverdient die meisten niedergelassenen ärztlichen Kollegen im Urlaub abgetaucht sind, gibt es „draußen“ gerade wenig Möglichkeiten, sich anschauen und behandeln zu lassen…

Eine ältere Dame stellt sich mit einem vermeintlichen Gast im Ohr vor. Sie hat beim Blick in den Spiegel um ein paar Ecken herum einen dunklen Punkt entdeckt und befürchtet, dass sich eine Zecke eingenistet hat. Beim direkten und mit unserer Superlupe (drei Beleuchtungsstufen!!!) beleuchteten Blick zeigt sich, dass es nur ein Schorfpünktchen ist. Irgendwann hatte sie sich hier vermutlich gekratzt.

Ein Gastarbeiter mit winzigen Deutschkenntnissen stellt sich vor. Dr. Google muß übersetzen, da leider kein Freund zur Hand oder per Ohr erreichbar ist. „Ich bin von einem Transporter zerquetscht worden“ steht da. Eigentlich sieht der junge Mann noch recht gesund aus, zeigt nun aber auf meinen erstaunten Blick hin auf eine blaue Zehe. Schmerzäußerungen sind global verständlich, daher ist relativ leicht heraus zu finden, daß nur die Zehenspitze schmerzt, nicht aber der Mittelfußknochen und das Gelenk. Dr. Google übersetzt mich: dass man dann kein Röntgenbild, sondern nur einen Verband braucht. Und übersetzt mir gleich noch die Antwort des Patienten zurück: „Hey, ok, du bist der Boss!“ Was täten wir ohne Übersetzungsprogramme mitten in der Nacht? Wir hätten nichts zu lachen…

Ein anderer junger Mann aus weiter Ferne kommt mit einer Wunde am Arm, ein Hund hat ihn gebissen. Er schimpft und wütet und will garnicht mehr damit aufhören, auch, während ich die Wunde versorge: er sei fertig mit den Deutschen, man werde ja nicht ernstgenommen, sondern ständig für verrückt erklärt, keiner hätte mehr Geduld und die Vorurteile, unglaublich, etc etc etc und schließlich wird deutlich, daß der junge Mann tatsächlich sehr krank ist, denn es ist nachvollziehbar, dass in unserem Land noch reichlich Vorurteile und Ungeduld vorhanden sind, nicht aber, dass die Nachbarn heimlich in seine Wohnung gehen und seine Kleidung mit Giftpuder präparieren, was einen unerträglichen Ganzkörperschmerz verursache. Nachdem die Wunde versorgt ist, braucht es eine ganze Weile und viele Worte, bis der Patient einverstanden ist mit „nur einem kleinen Schwatz“ mit dem Psychiater, der sowieso gerade nebenan am Arbeiten ist – sozusagen als Gefälligkeit, weil er damit dann der Chirurgin eine Freude macht. Die Arzthelferin und ich atmen erstmal auf.

Draußen im Gang ein großes Hallo: eine Patientin ist mitsamt dem Klinikrollstuhl umgefallen. Die HelferInnen, die geeilt kommen, sehen schnell, dass nichts weiter passiert und der Zustand nicht schlechter ist als bei Ankunft. Ich werde von einer der älteren Mitarbeiterinnen aufgeklärt, dass dies ab und zu Strategie sei, um die lange Wartezeit zu verkürzen (im Moment ist eine Wartereihe von 8 Patienten aufgelaufen). Ich staune. Dass Patienten sich mitsamt der Sitzgelegenheit umwerfen, um schneller dran zu kommen, ist mir auch noch nicht vorgekommen.

Drei Zecken(-rest-)entfernungen später stellt sich eine Lady vor, die, Arm voran, durch eine Glastür gelaufen ist. Bei guter Beleuchtung glitzert der gesamte Arm samt Wunden von den Splittern, und da wir keine Dusche haben, ist becherweise warmes Wasser zum ersten vorsichtigen Spülen die Alternative. Im zweiten Durchgang, mit der Spitze einer feinen Pinzette, ist noch hier und da ein Splitter zu finden und herausziehbar. Und endlich kann die Patientin gut geputzt, restauriert und verbunden wieder gehen.

Draußen ballt sich währenddessen eine dicke Wolke Ärger bei den Mitarbeiterinnen zusammen. Ein Patient hat sich zum dritten Mal beschwert: er wolle nur ein Rezept und darauf nicht ewig warten. Auf die berechtigte Frage hin, ob man denn für sein Rezept blutende Wunden und gebrochene Beine vernachlässigen solle, kommt tatsächlich ein „Ja, das interessiere ihn nicht“… Oho!

Der nächste Patient ist erfreulicherweise ohne größere Zeitverzögerung durch Rezeptausstellungen bei mir angekommen, trotzdem ist die tiefe Kniewunde mit Splitt und Erde verklebt. Er war mit kurzen Hosen wandern und ist gestürzt. Noch einmal einer, der in ein Wännchen gestellt und erstmal mit reichlich Wasser gespült wird ( vielleicht sollte man mal die Installation einer Dusche in der Nähe anregen?), im zweiten Schritt der Versuch, all die restlichen, winzigen Steinchen aus der 3 cm tiefen und 5 cm breiten Wunde zu entfernen, und schließlich die stationäre Einweisung – da braucht es mehr als einen Verband, ein Vakuumsaugsystem wird ihn hoffentlich vor einer wüsten Gelenkinfektion bewahren. Die Auswahl der Schmerzmedikation ist nicht ganz einfach: die Dauermedikamente sind „eine weiße und eine rote Tablette, ein grünes und ein weißes Spray“. Zwar bin ich immer für interessante Farbkombinationen zu haben, aber es bleibt leider offen, ob sich die bunte Pillenkombi auch mit und welchen Schmerzmitteln vertragen wird. Da wird sich die Familie nochmal bei den Medikamentenschachteln zuhause umschauen müssen…

Und sonst? Schnittwunden bei Selbstverletzung, viele verstauchte, ein paar gebrochene Sprunggelenke, Fahrradstürze, Abszesse, chronische Schmerzen, Knieprobleme aller Art, an- und durchgebrochene Kinderarme, Fremdkörper in Fußsohlen, Bastelprojekte nach Schnittverletzungen, und die Sprachenvielfalt der halben Welt. Und: die Übersetzungsprogramme auf diversen Handys als holpriger Ersatz für ein richtiges Pfingstwunder…


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Sammeln und verteilen – Die Kuehn-Foundation

Eine kleine, spitze Schere? Nein, 20! Dazu: zahlreiche Instrumentensets für verschiedene Operationen! Zwei gut erhaltene Roll-Hocker in Mintgrün? 30! Und OP Besteck vom Feinsten! Zwei Gelunterlagen für den OP-Tisch – keiner wird darauf mehr postoperativ über Rückenschmerzen klagen. Ein Monitor zur Überwachung der Vitalfunktionen? Nein, eine ganze Serie. Ein Röntgengerät? Auch mehrere… Und und und. In der aktuellen Tendenz, kleine Krankenhäuser dicht zu machen und dafür ein großes, zentrales zu bauen, bleibt vielerlei einfach übrig, was von ausgezeichneter Qualität, noch lange nicht schrottreif und noch für Jahre verwertbar ist. Thomas Kühn, Unfallchirurg und Orthopäde aus Biberach, berichtet von Rundgängen durch die verlassenen Flure eines dieser kleinen, aufgegebenen Häuser, um zu sammeln, was in anderen Teilen der Welt noch großartige Dienste tun kann. Surreal mute sie an, diese Tendenz, immer alles neu haben zu wollen, wenn man in ein anderes Haus umzieht. Was für eine Verschwendung. Und andererseits auch wieder eine gewisse Freude für ihn, der Sinn für global wirksames Recycling hat!

Nach zwei Jahren in einer kleinen Klinik im Norden Tanzanias zu Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit in den 80er Jahren folgten viele Jahre der Spezialisierung, der engagierten Klinik- und Praxistätigkeit in Deutschland, der Mitgründung einer Klinik. Dann, 2017, nach Übergabe seines hiesigen Werks in jüngere Hände, führte Thomas Kühn der Weg wieder nach Tanzania. Und zeigte, dass es, wie vor vielen Jahren, immer noch an brauchbarem Arbeitsmaterial, Wissen und spezialisiertem Personal mangelt. Und dem Geld, all das zu finanzieren. Und auch das Packen und Verschicken von Containern mit wichtigen Dingen ist teuer, selbst wenn der Inhalt gespendet wurde. Der Entschluss, zunächst hauptsächlich aus eigenen Mitteln eine Stiftung zu gründen, hatte auch den Vorteil, Spendenbescheinigungen ausstellen zu können für diejenigen, denen eine bessere medizinische Versorgung in ärmeren Teilen der Welt ein Anliegen ist – ein wenig Ausgleich zu schaffen zwischen unserem mitteleuropäischen Fettauge und dem Mangel in der „dritten“ Welt.

Und heute? Ein paarmal im Jahr ist Thomas Kühn unterwegs in Afrika. Besucht alte und neue Bekannten und Kollegen, packt Container aus, die er zuvor mit Helfern in Deutschland bestückt hat, sortiert und optimiert die Dinge für den dortigen Gebrauch, unterstützt Kliniken und Kollegen mit dem Material in ihrer Arbeit vor Ort und bringt hier und da seine eigene Kompetenz in der täglichen Arbeit ein – ein rastloser Rentner, dem diese vielfältig-bunte Tätigkeit sichtlich Freude macht!

(Im Bild: Thomas Kühn und seine Frau Jutta, im Hintergrund zwei der Container, die die Reise, wertvoll bepackt, zum Ort der Bestimmung in Tanzania geschafft haben. Mehr Infos über die Stiftung finden sich hier:

http://www.kuehn-foundation.com


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Letzte Runde! – Mwanza VI

Meine letzte, quasi „Abschiedsvorlesung“ über Wunden hatte ich zwar schon in Stuttgart ausgefeilt, aber dann doch noch morgens um 4 Uhr am Tag der „Aufführung“ um all das ergänzt, was in den letzten Wochen als optimierbar aufgefallen war. Diesmal ist die Mitarbeit doch ein bisschen besser. Vor allem eine der Nurses glänzt mit Mut und Kompetenz – und lauter Stimme! Und auch die jungen Docs haben sich tapfer geschlagen, bis zur letzten Minute an meinem letzten Tag ungefragt in der Notaufnahme übersetzt, was die Patienten erzählten und das weitere Vorgehen im Gespräch diskutieren wollen. 

Wann ich denn wiederkomme, wurde ich in meiner Verabschiedungsrunde gefragt. 

Wenn ich fließend Kisuahili spreche, habe ich dann gesagt. Denn in Tanzania können zwar viele englisch, haben sogar ihre Ausbildung in dieser Sprache absolviert – aber sie sprechen es nicht gern. Selbst dann nicht, wenn man unermüdlich darauf hinweist, dass man nicht genügend versteht, um am Gespräch teil zu nehmen. Und jeder Ausländer, der einigermaßen Kisuahili spricht, kommt gerne den tanzanischen Kollegen entgegen und so fand ich mich unversehens zwischen Kisuahili spechenden Holländern, Deutschen und Tanzaniern wieder.

Nur ein paar sehr wenige Einzelne hatten sich gemerkt, dass ich vielleicht hier und da ein Wort verstehe, aber nicht den Zusammenhang, und deshalb konsequent englisch gesprochen. Bei Nachfragen wurde auch willig übersetzt, allerdings dann eben später, nach der Veranstaltung.

Trotzdem: auch, wenn man nicht alle Worte versteht, läßt sich eine Stimmung erspüren, ob es um Schwieriges oder Frohes geht, Anspannungen, Freude, Müdigkeit, hier und da leuchtet ein Wort auf, das man kennt, und so etwa kann man sich dann denken, worum es geht. Vielleicht. 

Und netterweise wurde ich, auch nach langen Erörterungen in einer Sprache, die ich kaum verstehe, immer wieder nach meiner Meinung gefragt. Gerade in der Morgenrunde, der Besprechung von wichtigen Themen, die Patienten und Klinik betreffend, oder bei der Visite kam dann immer wieder die Frage, Dr. Sabine, möchtest Du auch noch einen Beitrag dazu geben? 

Ich fand das nett und habe gesagt: ich habe zwar fast nichts verstanden, aber ich vermute, es ging um dies oder das, und dazu hätte ich tatsächlich noch eine Idee… Das wurde stets freundlich aufgenommen und dafür gedankt und ich habe mich gefragt, wie soll ich das einordnen? 

Fühlt man sich in seinem Kisuahili so wohl, warm und geborgen, dass man nicht darauf verzichten kann? Oder ist es eigentlich ein Entgegenkommen für all diejenigen, die in englisch nicht so kapitelfest sind, aber die Informationen für die Arbeit brauchen, und jene sind vielleicht mehrere? Vor allem: wie kann man denken, ich könne dem Gespräch folgen und dann einen Beitrag leisten, wenn ich doch immer wieder sage, bitte, ich verstehe euch nicht? Na, wie auch immer. 

Ich komme wieder, wenn ich fließend Kisuahili spreche.

Das ist ja schön, meinte darauf hin eine, dass Du jetzt Kisuahili lernst! – Ach?

Und: das große Gruppenbild war mein Wunsch zum Abschied: das freundliche Gesicht Tanzanias auf einem Bild!

Und normalerweise werden medizinische Fortbildungen nicht vom Altar aus gehalten, aber in diesem Fall war halt noch nicht vom Vortag aufgeräumt. Jemand meinte: Jesus räumen wir jetzt nicht weg – es ist ja immer gut, ihn dabei zu haben! Die Bibel haben wir dann auch liegen lassen…


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Marafiki zetu mchwa! – Mwanza V

Überraschung vor den Frühstück: die Ameisen haben im obersten Schrankfach  eine Tüte mit Studentenfutter aufgestöbert. Eine kleine, feine Krabbelstraße hat sich bereits nach dort oben gebildet. Hier und da hat sich auch jemand in eine Socke oder Bluse verirrt. Also keine Nüsse zum Frühstück. Beim Schütteln der offensichtlich nicht ausreichend verschlossenen Tüte rieseln um die 200 Ameisen nach unten.

Wie wird man nun die Gäste im Inneren am besten los? Ich schütte den Tüteninhalt kurzerhand in ein Schälchen und Wasser darüber. Das erspart uns ein langwieriges Handgemenge. Die Gäste lassen sich so problemlos abgießen. Wie bekommt man jetzt aber die Nüsse wieder trocken? Ich denke mir, auf einem Teller ausgebreitet, müssten sie in der heißen Tropensonne eigentlich schnell wieder trocknen. 

Um erneuten Ameisenbesuch auszuschließen, wird ein Türmchen errichtet: eine Schale mit Wasser, in der Mitte eine Kaffeedose, darauf den Rest vom Abendbrot gestern, der noch zum Mittagessen reicht, in einer Tupperdose, dann obenauf der Teller mit den Nüssen. Kontrolle: kein Kontakt mit irgendetwas, das man als Brücke nutzen könnte? Nein.

Am Mittag ist zu sehen, wie sich Ameisen um die Wasserfläche sammeln. Sind sie nur durstig oder planen sie eine Hängebrücke, Füßchen an Füßchen? Sind sie dabei, schwimmen zu lernen? Am Abend haben sich tatsächlich schon wieder zwei Ameisen zu den Nüssen gesellt. Scheinbar dauert es, bis man als Ameise schwimmen gelernt hat, daher nur so wenige? Oder sind sie einfach die Wand hinaufgeklettert und haben sich von oben herunterfallen lassen, direkt dahin, von wo verlockend der Nussduft aufsteigt? Die Welt der Ameisen ist voller Geheimnisse und Wunder…

Marafiki zetu mchwa – Kisuahili für: unsere Freunde, die Ameisen.


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Lala salama – Mwanza IV

Die Nacht liegt ruhig, gebettet auf Grillengegeig, Froschquaken verschiedener Tonhöhen, Nachtvogelstimmen. Es ist ein vielstimmiges Zirpen, hin und wieder von einem Bassquaker begleitet, auch gibt es  ein Tier, dessen Stimme klingt, als fiele ein Tröpfchen ins Wasser, was sich dann in der Geschwindigkeit steigert, so dass man den Eindruck einer undichten Wasserleitung hat, gerade da frage ich mich, wie dieses Tier wohl aussehen mag? Ein Vögelchen, klein, mit langem, gebogenem Schnabel? Ein Minifrosch? Ab und zu ein Pfeifen – eine Riesenmaus? Ein Klippschliefer? Letztere sehen ja immer ein bisschen muffelig aus, wie verärgerte Murmeltiere, die sich gleich über irgendetwas beschweren möchten…

Mein Zimmer, direkt oberhalb der Krankenstationen gelegen, hat große Ohren, zumal immer das Fenster weit offen steht. Wenn nicht gerade jemand seinen Müll verbrennt, ist die Nachtluft frisch und würzig. 

Unten läuft weinend ein Kind durch die Station, mal lauter, mal leiser, klagend, dazwischen Stimmen, mal ungehalten, mal aufgeregt. Wetterleuchten über dem Viktoriasee. Sterne. Ich denke über die Niederlagen des Tages nach. 

Die junge Frau mit dem so lange verschleppten Abszess der linken Brust, weil keiner so recht Mumm hatte, einmal richtig unter Kurznarkose hinein zu schneiden, ordentlich zu spülen, dann wäre die Wundfläche jetzt um ein mehrfaches kleiner. Es helfen eben nicht jedesmal nur Antibiotika…

Der Schulbub, schwer atmend, lebensbedrohlich krank, alle Symptome eines weit fortgeschrittenen lymphatischen Tumors, aber quälend langsam behandelt, ja eigentlich bisher nur durch die Diagnostik geschickt, an einem Tag im Ultraschall, am nächsten nochmal Labor, und dann, noch zwei Tage später, ein CT, das in Deutschland befundet wird und dann zuweilen erstmal noch übersetzt werden muß und natürlich reicht das Geld nicht, genau an der Stelle, wo man denkt, die Zeit läuft ab, der Bub kann nur noch im Sitzen schlafen, weil er kaum atmen kann, und man denkt, jetzt muß etwas passieren, am besten gestern, aber auch morgen wird noch dies und das überlegt…

Gibt es Lösungen? Unkonventionelle? Vorsichtig diplomatisch formulierte Lösungsvorschläge? Es muß gut abgewogen sein, wer was bezahlen soll oder kann, wo was geschehen kann oder darf, und jetzt vor allem wann?

Und der Kampf um die Schere, eine einfache Schere für das Verbandszimmer, nicht steril, aber sauber, für diejenigen, deren Fingernägel nicht scharfkantig sind, die aber dennoch gerne Pflaster, Mull und anderes zurechtschneiden würden, wenn, ja wenn es eine Schere gäbe? Ich denke an all die Scheren, die im Lager auf ihren Einsatz warten, aber ist derjenige, der den Schlüssel hat, erreichbar, wenn eine Schere gebraucht wird?

Das Gesumm der Moskitos endet am Netz. Was die Ameisen wohl im Dunkeln planen? Einen neuen Eroberungsversuch verlockender Dinge in Schrank oder Koffer?

Morgen ist ein neuer Tag. Neue Chancen, neue Möglichkeiten. Was haben wir uns kürzlich zugesprochen? Hoffnung ist immer…

Morgen werden wir wieder, inmitten der stark abgeblassten, aber tief verschneiten bayrischen Schneeberge im Sprechzimmer (die ein Recyclingfan aus dem Spendenkonvolut entnommen und dort aufgehängt hat) hoffnungsvoll an der Zukunft arbeiten.

(Lala salama: Kisuahili für ‚Schlaf gut‘, wörtlich übersetzt ‚Liege im Frieden‘)


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Zwischen Reis und Rindern – Mwanza III

Am Wochenende ist Visite wie sonst auch, nur in etwas kleinerer Besetzung. Da ich sonst nichts vorhabe, und noch etwas in Sorge war wegen einem Patient, der am Freitag mit starkem Bauchweh bei Amöbenruhr aufgenommen wurde, begleite ich das kleine Häuflein Personal, das sich durch die Patientenzimmer schlängelt. Und siehe da, der Patient ist schon entlassen, hoffentlich, weil es ihm besser ging. Manchmal geht ja einfach das Geld aus… Auch die anderen Patienten scheinen auf dem Weg der Besserung, keine Katastrophen so weit. Im Wöchnerinnenzimmer präsentieren drei stolze Mamas die in den letzten zwei Tagen geborenen Babies. Ich bin so frei, mich nach der Visite zu verabschieden, wenn der Wochenenddienst sich in die Ambulanz begibt, wo gerade nicht wirklich viel los ist.

Jetzt ist der Tag ein weites Land und lädt zu Entdeckungen ein. Ich hatte schon länger im Sinn, ein paar Erdnüsse kaufen zu gehen, um besser für ausfallendes Frühstück gewappnet zu sein, aber das Angebot ist an den Büdchen, wo ich frage, ein bisschen mager. Zwar baut fast jeder Erdnüsse im Garten an, aber es gibt sie nicht breitflächig zu kaufen. Avocados und Mangos habe ich schon gefunden, frisch gewachsen und geerntet, wunderbar! Schliesslich komme ich bei ein paar Kindern vorbei, die immerhin winzige Portiönchen Erdnüsse verkaufen, jeweils ein Esslöffel voll, in Plastik eingeschweisst. Mit dem Rechnen ist es so eine Sache, und mit dem Herausgeben noch mehr, so dass ich schließlich das Rückgeld auch in Erdnüssen anlege. Fünf dunkle Kindergesichter strahlen mich an und ich freue mich, ein paar Nüsse gefunden zu haben.

Am Nachmittag dann geht es ein Stückchen spazieren, nachdem ein Gewitter mit Platzregen vorübergezogen ist, dicke weisse Wolken türmen sich noch am blauen Horizont, aber die Sonne scheint wieder unverdrossen heiß. Große Eidechsen in rot und violett huschen über Mauern, bunte Schmetterlinge und Libellen sind unterwegs und dicke Käfer brummen vorüber. Irgendwann lande ich in den feuchten Niederungen eines Reisfelds, und siehe da, ich treffe Landsleute: ein Herdchen Schwarzbuntvieh stapft tapfer durch die moorig nasse Landschaft am Ausläufer des Viktoriasees.

Mittendrin steht Marlon, ein wohlgenährter Bauer, und freut sich an den maigrün sprossenden Reisstängeln. Wir lassen ein paar Begrüßungsworte hin und herfliegen, dann lädt er mich ein, genauer zu schauen: sein Familien-Haus, sein Reis, sein Mangobaum! Auch ein Papaya- und ein Avocadobaum stehen in prallem Grün, Mais, Kartoffeln, Tomaten – halt alles, was man so braucht, um gut ernährt zu sein! Er erklärt mir dies und das, ich lobe seine fruchtbare, schwarze Erde, und ja, die Kühe sehen nicht nur aus wie bei uns, sie seien tatsächlich aus Deutschland. Ein Cousin kommt vorbei, Marlon möchte ein Foto mit dem Besuch aus der Ferne, von da, wo auch das Vieh herkommt! Wir posieren zwischen Reis und Rindern, man verabschiedet sich mit viel Dank und Willkommen. Asante und Karibu sana! Die Sonne sinkt über der Hügelkette…


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Dr. Peter fällt um

Nachdem Dr. Peter mir bereits in Nairobi gute Dienste geleistet hatte, indem er mit verschiedenen Diagnosen immer mal umfiel und damit meine Studenten in der Fortbildung sich überlegen mussten, was man in den verschiedenen Zuständen mehr oder weniger schnell tun muss, hatte ich mir auch hier eine Geschichte ausgedacht. Eine Art Detectivestory, die sich am allerbesten zusammen, im Team lösen lässt, so wie ja auch in der echten Arbeit im Alltag. Mal hat er zu wenig getrunken, mal ist er unterzuckert, mal fallen ihm dicke Bücher auf den Kopf, und am Schluss muss er noch reanimiert werden. Im Prinzip ist es immer dasselbe: atmet er? ja? nein? was macht man dann? Lagerung? Untersuchungen, falls er nicht wach wird? Erste Hilfe halt. 

Donnerstagmorgens ist die große Fortbildung, da ist es Pflicht, zu kommen. Der Saal ist voll, aber einige haben sich schonmal weit hinten platziert. Vermutlich, weil ich schon beim letzten Mal ein paar Fragen zwischendurch gestellt hatte. Ich finde ja, man lernt am besten, wenn man nicht den Vortrag an sich vorbei rauschen lässt, sondern mitdenken muss…

Ich lade zum Umzug in die vorderen Reihen ein, was sich, etwas zäh zwar, aber doch machen lässt. Erzähle ein bisschen, warum ich diese Fortbildung mache und was ich damit im Sinn habe. Stelle Dr. Peter vor und was er so tut, und dann lasse ich ihn das erste mal umfallen. Erschreckte Gesichter. 

So, what will you do now? frage ich. Schweigen. Ratlosigkeit, einige sehen aus, als wollten sie am liebsten die Flucht ergreifen. Zwei verlassen den Raum. Ich denke an den Onkel einer Freundin, ebenfalls Arzt, der zur Maximalprovokation seiner Studenten immer mal selbst den Umfallenden spielte. So weit wollen wir es nun doch nicht treiben. Ich frage nochmal. Was tut ihr? Am Boden liegt euer Kollege und rührt sich nicht mehr! Schweigen. Ich schaue ein paar Leute intensiv an. Endlich meldet sich einer und erzählt von ABC. Eine gute Idee! Das ist doch schonmal was. 

Die gesamte Fortbildung zieht sich äußerst zäh dahin. Was in Nairobi überhaupt kein Problem war, ist in Tanzania auf dem platten Land scheinbar schon eins. Sehr mühsam bekommen wir den Doktor schließlich reanimiert und therapiert. Keiner hat gelacht, keiner hat rasch reagiert, lediglich der ebenfalls hustende Kollege von der Männerstation hat dann doch eifrig mitgemacht und sich am Schluss nochmal herzlich für die Fortbildung bedankt. 

Natürlich interessiert mich, was da so schwierig war.

„Sie sind das nicht gewohnt“, sagt die headnurse, die auch, zwar später erst, und recht leise, aber dann doch mitgemacht hat. „Normalerweis sitzen sie da und lassen sich mit einem Vortrag berieseln. Auch verstehen nicht alle so gut englisch“. 

Und das Wissen? „Das gut ausgebildete Team vom letzten Jahr ist leider nicht mehr da. Fast alle sind neu, und da gab’s noch keine Erste-Hilfe-Ausbildung. Man kann nicht bei allen erwarten, dass sie selbst handeln. Auch gerade die Schwestern, die nur eine Grundausbildung haben, sie würden den Patient nicht anrühren, sondern versuchen, einen Doktor anzurufen“.

„Ach, ich hab gedacht, ich warte mal, ob die anderen nicht was sagen“, meint einer meiner Docs. „Aber du bist doch fit und weißt das alles, warum läßt du dein Licht nicht leuchten“, frage ich? Er zuckt mit den Achseln und lächelt freundlich. 

„Sie mögen es nicht, wenn man Fragen stellt“, sagt die Ehefrau vom holländischen Gastchirurg. „Fragen stellen ist unhöflich. Das darf man als Mädchen auch im Dorf nicht, man bekommt eine Backpfeife, wenn man sich nicht daran hält“.

„Ja nun. Kann man das nicht differenzieren?“, frage ich. „Wie soll man denn unterrichten, ohne Fragen zu stellen?“ 

„Du mußt einen rauspicken“, sagt die headnurse, „der soll antworten“. Die Methode scheint mir ziemlich grob und nicht mein Ding. Ich lade lieber ein, als zu verpflichten…

Die kleinen Fortbildungen, die ich immer mal wieder außerhalb der Arbeitszeit einflechte, mit Untersuchungstechniken – einer stellt z.B. sein Knie zur Verfügung, dann wird gezeigt, wie welche Struktur etwas erzählen kann über ihren Verletzungsgrad, dann darf einer der Studenten den Untersuchungsgang für alle demonstrieren – sind deutlich dünner besucht, funktionieren aber besser, was den Mut zum Mitmachen angeht. Mal sehn, wie sich das noch so entwickelt…


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Weekendi – Mwanza II

Völlig unbeschrieben und hell wie der Morgen streckt sich der Sonntag, ein weites Land.  Die Sonne scheint, samtblau wölbt sich der Himmel, die Ibisse singen ihr ein wenig vorwurfsvoll klingendes Lied in den Bäumen, und vor meinem Fenster spielen die Meerkatzen auf dem Dachfirst Fangen. Oder lausen einander mit ihren langen schwarzen Fingern, was überaus elegant aussieht.

Heute verzichte ich auf die Frühvisite. Da es jeden Morgen ein Morgengebet für alle auf Kisuahili gibt (das ich bis auf das Baba yetu, das Vaterunser, nicht verstehe, aber täglich besuche), verzichte ich heute auch auf den Gang zur Kirche, auch dort würde ich nur erahnen können, worum es jeweils geht. 

Wenn man am Sonntag nicht allein sein mag, ist die Dorfkneipe von Rose, wo das Personal üblicherweise etwas zu essen bekommen kann, ein guter Platz. Dahin gehe ich mit meinen Buntstiften und dem Zeichenheft. Unter dem etwas löchrigen Grasdach sitzen schon Moses, 19 Jahre, Watchman, und Esther, eine der Mitarbeiterinnen der Kneipe. 

Da passe ich auch noch hin. Hodihodi! Man klopft trotzdem vorher erstmal verbal an. Karibu! Ich darf mich dazu setzen. Man wirft ein paar Begrüßungsformeln hin und her. Wie ist der Morgen? Was macht die Arbeit? Die Familie? Wie gehts? Alles frisch? Salama! 

Rose gesellt sich zu uns.  Heute gibt es nur Frühstück für Leute, die Kisuahili sprechen, sagt sie zu mir. Na denn! Ein Ritual, ich kenne das schon. Was ich kann, ist hauptsächlich auf den Klinikkontext bezogen. Streck die Zunge raus! Tief einatmen! Entspannen! Zieh die Schuhe aus. Hast Du Schmerzen? Kopfweh! Durchfall! Fieber! Nun reicht es, Rose lacht. Frühstück! 

Eigentlich ist ja schon Zeit zum Mittagessen, aber Hauptsache, es gibt etwas (was nicht immer der Fall ist). Aber um diese Zeit sind die Holzkohlen schon angeheizt. 

Während ich auf’s Essen warte, wünscht Esther eine kleine Konsultation. Ihre Mama hat immer Kopfweh. Moses muß übersetzen. Das dauert ein Weilchen und das Problem läßt sich nicht wirklich verstehbar benennen. Schließlich wird die Patientin angerufen. Aus dem Handy schallt laute Musik. Ob’s daran liegt? Zuviel Lärm? Die Angerufene versichert, dass es ihr heute gut gehe. Wunderbar, so löst sich manches Problem von selbst. Aber Esther fühlt sich krank, legt den Kopf auf den Tisch und schläft ein bisschen. Die Medikamente, in der Klinik geholt, hat sie schon genommen.

Dann ist das Frühstück da. Festlich: ein Omelett mit Zwiebeln, ein paar gebratene Kochbananen, ein Stückchen Mango. Und danach hole ich mein Zeichenheftchen heraus. 

Moses schaut mir zu. Wo siehst Du das? fragt er mich, als ich einen großen Vogel auf einem blauen Dach gemalt habe. Muß man sehen, was man malt, frage ich? Magst Du auch mal die Stifte ausprobieren? Moses nickt. Unbedingt!

Er malt einen Pilzbaum, in verschiedenen Blautönen, ein bisschen gelb, weiß, grau, fein, hingebungsvoll, konzentriert. Jetzt schaue ich ihm zu. Zeit ist ein Riese, und an diesem Mittag ein schweigender, der das Gesicht lächelnd in den Himmel hält. 

Wenn du magst, sagt er mir, zeige ich Dir die Pilzbäume! Gerne würde ich sehen, wie man hier auf Baumstämmen Pilze kultiviert. Unbedingt! Wir machen eine Zeit am Nachmittag aus, wann wir uns treffen. 

Zum vereinbarten Zeitpunkt ist Moses nicht da. Ich warte eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, dann gehe ich ein wenig durchs Dorf. Ich hatte das schon eingeplant. Wer hier sagt, er käme, muß deshalb nicht unbedingt auch kommen. So ist das eben. Zeit ist ein Riese, der zuweilen auch unsichtbar hinter dem Horizont spazieren geht.

Die Sandpiste, die durchs Dorf führt, ist staubig, aus den Nachmittagsgottesdiensten in den kleinen Freikirchen auf dem Weg weht Gesang. Es ist ruhig heute, die kleinen Baracken, wo Frauen sonst Obst verkaufen, sind geschlossen, auch beim Barbershop ist nichts los. Hier und da spielen Kinder. Muzungu! Muzungu! Wenn eine weiße Frau vorübergeht, ist das stets Anlass für laute Rufe und Lachen: und plötzlich hat für die Kinder der dörfliche Sonntag ganz ungewohnt bunte Punkte! 

Du wurdest vermisst, sage ich am Dienstag zu Moses. Ja, er nickt und lächelt verständnisvoll. Er war an einem anderen Ort. Ob ich denn heute Zeit hätte? In der Woche hat die Arbeit Priorität, sage ich. Ja, das stimmt. Auch Moses muß seinen Pflichten nachkommen. Wir lächeln. Niemand würde hier je einen Vorwurf formulieren. Zeit ist ein Riese. Und ob er im Westen das Gesicht in den Wind oder im Süden ein Schläfchen hält, ist das wesentlich?


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Tanzania – Mwanza I

Afrika, die 13. Runde! Diesmal bin ich in Tanzania, in einem kleinen dörflichen Krankenhaus unterwegs. Ergeben hat sich dieser Einsatz durch die Vermittlung einer Freundin, mit der ich in Nairobi schon über German Doctors zusammen gearbeitet hatte. Der deutsche Gründer der Klinik in Mwanza hatte um Unterstützung in der Ausbildung seiner allesamt sehr jungen, einheimischen Ärzte angefragt.

Eigentlich sollte ich ja, hatte man sich gedacht, mit dem chirurgischen Assistenzarzt unterwegs sein, aber da momentan kaum operiert wird, und der junge Mann auch noch allerlei anderes im Kopf hat, habe ich den ehe locker formulierten „Arbeitsauftrag“ ein bisschen modifiziert. Bevor ich stundenlang im Chirurgenzimmer auf einen Patient (die auch anderswo auftauchen als dort, da nicht vorsortiert) oder auf meinen Azubi warte und dabei Schimmel ansetze, ist folgende Lösung deutlich ergiebiger: ich versuche, in der Ambulanz jeweils eine Tages-Runde mit einem auch der anderen jungen Ärzte unterwegs zu sein. Nachdem ich meinen ersten Tag vor Ort damit verbracht habe, beim Warten auf den chirurgischen Kollegen einfach mal zu schauen, wer noch da ist und was macht, viele freundliche Menschen kennengelernt habe, jetzt weiss, wer wieviele Kinder hat, wer vorher einen anderen Beruf hatte und was für schöne Namen man hier seinen Kindern gibt (Fortunatus, Loveness, Deogratias, Vestina, Happyness, Secunda…), sind mit der neuen Variante sowohl meine Studenten als auch ich ziemlich zufrieden. 

Ich habe mich einfach mit in eines der Sprechzimmer gesetzt (sozusagen the humble helping hand in the background) und überaus positiv überrascht erlebt, dass die  Docs mir ungefragt das Gespräch mit den Patienten übersetzen und von sich aus den jeweiligen Fall samt Diagnostik und Therapie diskutieren möchten. Das ist natürlich eine klasse Chance, so können wir zwischendurch auch Untersuchungstechniken üben, die noch ziemlich marginal vorhanden sind, hier und da einen Ultraschall mit dem portablen Gerät machen und auch mal ein paar Antibiotikaverordnungen und Röntgenbilder vermeiden, die nicht unbedingt nötig sind. Denn ein Knie oder ein Rücken erzählen ja schon in der gezielten klinischen Untersuchung ganz viel, was sich gut den einzelnen Strukturen zuordnen läßt. Meine jungen Kollegen sind geduldig mit den Patienten, grundsätzlich fehlt noch ein bisschen der klinische Blick, man hat noch so viel Theorie vom Studium im Kopf.

Die Ambulanzpatienten sind denen in Mathare Valley in Nairobi recht ähnlich in ihren Anliegen, aber nicht  ganz so zahlreich, was den Vorteil hat, dass man mehr Zeit in die Einzelnen und das Training der Docs investieren kann. Auch sind sie deutlich selbstbewußter, beschweren sich immer wieder, lange warten zu müssen, und es kann durchaus vorkommen, dass ein Patient beschließt, jetzt einfach schonmal rein zu kommen und sich dazu zu setzen, damit klar ist, wer als nächstes drankommt, so hat man zuweilen unversehens drei verschiedene Patienten im Zimmer. Da braucht es klare, höfliche Worte, um dem einzelnen den Raum zuzuweisen, der ihm zusteht.

Spontan habe ich zwei Fortbildungen über die klinische Untersuchung bei Knieproblemen und unspezifischem Rückenschmerz angesetzt, ich dachte mir, das wäre eine klasse Möglichkeit, einiges an Röntgenstrahlen zu sparen. Wir haben schonmal angefangen, eine Choreographie dazu einzuüben, einer ist der Doc und einer der Patient, was viel Spass gemacht hat, ich bin gespannt, wie das klappen wird. Die Jungs meinten ja, wenn die offiziellen Donnerstagsfortbildungen nicht ausreichen, könnte ich ja noch ein paar Extratermine ansetzen. So gibt es jetzt pro Woche zwei Termine mit Teaching, teils interaktiv, teils mit hands on. 

Und sonst? Ganz anders als in den vielen Einsätzen in Nairobi fühlt sich dies hier wieder deutlich mehr nach Afrika an – in den Nächten kann man den Fröschen, Grillen und Nachttieren zuhören, statt eine sechsspurige Straße im Ohr zu haben und wenn man  draußen ein Plätzchen zum Sitzen sucht,  gibt es garantiert Menschen, mit denen man unkompliziert plaudern kann…   

Und: ich bin voller Bewunderung für eine Ameise, die vom Garten aus erspüren kann, dass oben im zweiten Stock ein Tröpfchen Mangosaft auf ein Handtuch geraten ist – in nullkommaganzwenig Zeit ist das betroffene Handtuchareal mit einer Schar Ameisen besetzt!


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Schein und Sein – Unterwegs im ärztlichen Notdienst

Nach 10 Stunden Fahrt und Besuch zahlreicher Patienten liegt jetzt eine Anforderung der Leitstelle vor für ein Flüchtlingswohnheim. Schon hin und wieder waren wir dort im Einsatz – es ist sicherlich das am meisten heruntergekommene im ganzen Landkreis. Ein altes, verwahrlostes Gebäude, in dem überall die Farbe blättert, die Heizung im Winter ausfällt, wo keinerlei Anzeichen für eine bewußte Gestaltung oder auch nur das Aufrechterhalten eines ansehnlichen Neutralzustandes zu erkennen wären. Nur Männer leben hier, und viele von ihnen sind scheinbar die abgehängten, die erfolglosen, die nicht integrierten, die die Sprache nicht gelernt haben, die seit Jahren hier herumhängen und es geht keinen Schritt voran. Die weit hinter den Sympathiebonus, der zur Zeit den Ukrainern gewährt wird, zurückgefallen sind. Die Vergessenen in gewisser Weise. Wir sind müde und verschwitzt. Bei meinem Fahrer, eigentlich ein freundlicher und ruhiger Mann, steigt der Sarkasmusspiegel. Was die wieder wollen, brummt er. Schon oft war auch er dort, bei all den jungen, zumeist grundsätzlich gesunden Männern, die ja weder über ein Auto verfügen noch über die nötigen Kontakte, die einem nachts ein Medikament bringen könnten und deshalb hin und wieder auch bei Erkältungen oder Blähungen anrufen und einen Besuch erbitten. Auch mal nachts um 2 Uhr.

Die Leitstelle versorgt uns normalerweise mit einer sparsamen Formulierung des Problems, das es zu lösen gilt. In diesem Fall lautet die Information „Unfall vor 3 Jahren, Problem Arm“. Ungeduldige Helfer, auch verschwitze, müde, fragen sich bei dieser Formulierung zuweilen, warum ein Unfall vor 3 Jahren jetzt am Wochenende zu Unzeiten behandelt werden soll. Die Geduldigeren wissen, auch dahinter können sich unerhörte Untiefen verbergen.

Unser Patient, um die 30 Jahre alt, liegt in seinem kleinen, unpersönlichen Zimmerchen auf der abgeschabten Sitzgelegenheit. Er stammt aus einem weit entfernten Land und spricht eine Sprache, von der ich noch nie gehört habe. Er ist schon seit ein paar Jahren da, kann aber kein Deutsch oder Englisch. Immer noch nicht, könnte man jetzt einwerfen. Aber wer weiß, warum? Zwei andere junge Männer sind bei ihm, einer ist extra angereist, um zu übersetzen. Er spricht soweit Deutsch, dass man mit einfachen Fragen eine karge Anamnese hinbekommt. Vieles bleibt unbeantwortet. Unser Patient wirkt auf den ersten Blick, als könne er seine rechte Körperseite nicht bewegen. Ein Schlaganfall? Mit 30 Jahren? Kann er sich wirklich nicht bewegen? Simuliert er gar? Alles schon dagewesen. Die Untersuchungen zeigen Normalwerte, auf Schmerzreiz ist Bewegung zu sehen, mein Fahrer wird zunehmend ungeduldiger, schimpft über mangelnde Kooperation beim Blutdruckmessen. Endlich wird eine speckige alte Tasche geholt, aus der sich ein zusammengewürfelter Stapel Papiere entfaltet – Anwaltsschreiben, Rechnungen, und endlich – das hatte ich gesucht – ein Arztbrief von dem Unfall vor 3 Jahren, der, wie ich jetzt sehe, mit multiplen, schweren Verletzungen und monatelangem Klinikaufenthalt einherging. Sind die Bewegungseinschränkungen darauf zurück zu führen? In gebrochenem Deutsch wird mir gesagt, die Beschwerden kämen immer wieder einmal, dazwischen habe er laufen können. Ob sie ein Schmerzmittel haben könnten? Der Patient spricht, aber aus der marginalen Übersetzung erschließt sich nicht, was ich wissen möchte. Ich beschließe, den Patient in die Klinik einzuweisen. Wir bestellen einen Krankentransport in die Neurologie. Die Leitstelle kündigt stundenlange Wartezeiten an. Wir packen unsere Koffer und gehen.

Im Gehen bin ich hin- und hergerissen. Habe ich mich von dem Setting in dieser trostlosen Umgebung beeinflussen lassen? Von Vorurteilen? Von der Ungeduld der anderen? Will ich den Patient etwa so sparsam behandeln, wie er sowieso schon lebt, nicht aber so, wie ein deutscher Patient es zumeist vehement fordern würde? Habe ich die Situation richtig eingeschätzt? Ich rufe die Leitstelle an und fordere statt des langsamen Krankentransportes einen schnellen Rettungswagen mit Signal an.

Als ich bei der nächsten Patientin, die mit Corona im Bett liegt, verkleidet und mit Handschuhen zugange bin, höre ich von draußen mit halbem Ohr, dass die Rettungswagen-Besatzung anruft. Was sie da sollten? Das wäre doch nichts für den RTW. Sie seien „angepisst“. Alter Unfall. Und das jetzt? Heute? Ich höre, dass mein Fahrer nun doch tapfer meinen Entschluss verteidigt.

Ein paar Stunden, nachdem der Dienst geschafft ist, rufe ich in der Klinik an. Es dauert eine Weile, bis man den Patient gefunden hat, das Geburtsdatum 1.1. teilt er mit so vielen anderen, die von weit her gekommen sind – die Notaufnahme verweist auf die Stroke Unit, diese auf die Intensivstation. Dort reicht mich die Pflege an den diensthabenden Kollegen weiter. Ja, tatsächlich, unser Patient hat einen ausgewachsenen Schlaganfall, im CT unschwer zu erkennen, völlig untypisch für dieses Alter. Hätte leicht übersehen werden können, sagt der ärztliche Kollege, immerhin, bei all den schweren Vorverletzungen… Die Station freut sich über die Telefonnummer des anderen jungen Mannes, der extra zum Übersetzen angereist war. Auch hier spricht, ja kennt keiner die Muttersprache unseres Patienten…

(Die Moral von der Geschicht, obwohl sie sich vermutlich jedem sofort erschließt: VORSICHT bei vorschnellen Zuordnungen, ohne genau hingeschaut zu haben!!!!!! (gilt nicht nur in der Medizin). Und um den Spruch zu zitieren, der im ärztlichen Bereitschaftszimmer hängt: Nothing was ever achieved without passion…)