Wie immer über die Feiertage und drumherum ist die chirurgische Arbeit bunt und vielfältig, auch herrscht ziemlicher Rummel in der Notfallversorgung. Nachdem wohlverdient die meisten niedergelassenen ärztlichen Kollegen im Urlaub abgetaucht sind, gibt es „draußen“ gerade wenig Möglichkeiten, sich anschauen und behandeln zu lassen…
Eine ältere Dame stellt sich mit einem vermeintlichen Gast im Ohr vor. Sie hat beim Blick in den Spiegel um ein paar Ecken herum einen dunklen Punkt entdeckt und befürchtet, dass sich eine Zecke eingenistet hat. Beim direkten und mit unserer Superlupe (drei Beleuchtungsstufen!!!) beleuchteten Blick zeigt sich, dass es nur ein Schorfpünktchen ist. Irgendwann hatte sie sich hier vermutlich gekratzt.
Ein Gastarbeiter mit winzigen Deutschkenntnissen stellt sich vor. Dr. Google muß übersetzen, da leider kein Freund zur Hand oder per Ohr erreichbar ist. „Ich bin von einem Transporter zerquetscht worden“ steht da. Eigentlich sieht der junge Mann noch recht gesund aus, zeigt nun aber auf meinen erstaunten Blick hin auf eine blaue Zehe. Schmerzäußerungen sind global verständlich, daher ist relativ leicht heraus zu finden, daß nur die Zehenspitze schmerzt, nicht aber der Mittelfußknochen und das Gelenk. Dr. Google übersetzt mich: dass man dann kein Röntgenbild, sondern nur einen Verband braucht. Und übersetzt mir gleich noch die Antwort des Patienten zurück: „Hey, ok, du bist der Boss!“ Was täten wir ohne Übersetzungsprogramme mitten in der Nacht? Wir hätten nichts zu lachen…
Ein anderer junger Mann aus weiter Ferne kommt mit einer Wunde am Arm, ein Hund hat ihn gebissen. Er schimpft und wütet und will garnicht mehr damit aufhören, auch, während ich die Wunde versorge: er sei fertig mit den Deutschen, man werde ja nicht ernstgenommen, sondern ständig für verrückt erklärt, keiner hätte mehr Geduld und die Vorurteile, unglaublich, etc etc etc und schließlich wird deutlich, daß der junge Mann tatsächlich sehr krank ist, denn es ist nachvollziehbar, dass in unserem Land noch reichlich Vorurteile und Ungeduld vorhanden sind, nicht aber, dass die Nachbarn heimlich in seine Wohnung gehen und seine Kleidung mit Giftpuder präparieren, was einen unerträglichen Ganzkörperschmerz verursache. Nachdem die Wunde versorgt ist, braucht es eine ganze Weile und viele Worte, bis der Patient einverstanden ist mit „nur einem kleinen Schwatz“ mit dem Psychiater, der sowieso gerade nebenan am Arbeiten ist – sozusagen als Gefälligkeit, weil er damit dann der Chirurgin eine Freude macht. Die Arzthelferin und ich atmen erstmal auf.
Draußen im Gang ein großes Hallo: eine Patientin ist mitsamt dem Klinikrollstuhl umgefallen. Die HelferInnen, die geeilt kommen, sehen schnell, dass nichts weiter passiert und der Zustand nicht schlechter ist als bei Ankunft. Ich werde von einer der älteren Mitarbeiterinnen aufgeklärt, dass dies ab und zu Strategie sei, um die lange Wartezeit zu verkürzen (im Moment ist eine Wartereihe von 8 Patienten aufgelaufen). Ich staune. Dass Patienten sich mitsamt der Sitzgelegenheit umwerfen, um schneller dran zu kommen, ist mir auch noch nicht vorgekommen.
Drei Zecken(-rest-)entfernungen später stellt sich eine Lady vor, die, Arm voran, durch eine Glastür gelaufen ist. Bei guter Beleuchtung glitzert der gesamte Arm samt Wunden von den Splittern, und da wir keine Dusche haben, ist becherweise warmes Wasser zum ersten vorsichtigen Spülen die Alternative. Im zweiten Durchgang, mit der Spitze einer feinen Pinzette, ist noch hier und da ein Splitter zu finden und herausziehbar. Und endlich kann die Patientin gut geputzt, restauriert und verbunden wieder gehen.
Draußen ballt sich währenddessen eine dicke Wolke Ärger bei den Mitarbeiterinnen zusammen. Ein Patient hat sich zum dritten Mal beschwert: er wolle nur ein Rezept und darauf nicht ewig warten. Auf die berechtigte Frage hin, ob man denn für sein Rezept blutende Wunden und gebrochene Beine vernachlässigen solle, kommt tatsächlich ein „Ja, das interessiere ihn nicht“… Oho!
Der nächste Patient ist erfreulicherweise ohne größere Zeitverzögerung durch Rezeptausstellungen bei mir angekommen, trotzdem ist die tiefe Kniewunde mit Splitt und Erde verklebt. Er war mit kurzen Hosen wandern und ist gestürzt. Noch einmal einer, der in ein Wännchen gestellt und erstmal mit reichlich Wasser gespült wird ( vielleicht sollte man mal die Installation einer Dusche in der Nähe anregen?), im zweiten Schritt der Versuch, all die restlichen, winzigen Steinchen aus der 3 cm tiefen und 5 cm breiten Wunde zu entfernen, und schließlich die stationäre Einweisung – da braucht es mehr als einen Verband, ein Vakuumsaugsystem wird ihn hoffentlich vor einer wüsten Gelenkinfektion bewahren. Die Auswahl der Schmerzmedikation ist nicht ganz einfach: die Dauermedikamente sind „eine weiße und eine rote Tablette, ein grünes und ein weißes Spray“. Zwar bin ich immer für interessante Farbkombinationen zu haben, aber es bleibt leider offen, ob sich die bunte Pillenkombi auch mit und welchen Schmerzmitteln vertragen wird. Da wird sich die Familie nochmal bei den Medikamentenschachteln zuhause umschauen müssen…
Und sonst? Schnittwunden bei Selbstverletzung, viele verstauchte, ein paar gebrochene Sprunggelenke, Fahrradstürze, Abszesse, chronische Schmerzen, Knieprobleme aller Art, an- und durchgebrochene Kinderarme, Fremdkörper in Fußsohlen, Bastelprojekte nach Schnittverletzungen, und die Sprachenvielfalt der halben Welt. Und: die Übersetzungsprogramme auf diversen Handys als holpriger Ersatz für ein richtiges Pfingstwunder…