Treffpunkt 10 Uhr in einem der großen Krankenhäuser Stuttgarts in der Eingangshalle – da biegt auch schon mein Mitfahrer um die Ecke: der DRK-Rettungssanitäter und Zweimetermann, mit dem ich heute unterwegs sein werde. Zusammen werden wir heute für 8 Stunden in Stuttgart im Auftrag des Gesundheitsamtes die Patienten anfahren, die einen Abstrich auf Covid19 brauchen, aber nicht zu den anderen Abstrichstellen kommen können. Wir sind gut ausgerüstet: es gibt für jeden Patientenbesuch einen frischen Kittel und Handschuhe, die kostbare FFP3-Maske ist den ganzen Tag zu verwenden, und da es keine Haube für die Haare gibt, habe ich meine afrikanische OP-Haube mitgebracht (Baumwolle, waschbar).
Das Wetter ist zum Glück gut, wenn auch ziemlich kalt, unter den Kittel passen genügend Schichten, um nicht zu frieren, und, große Freude: es regnet nicht! Das ist schonmal klasse, wenn man vor der Tür auf dem Gartentischchen die Verwaltung machen muß – denn wir gehen, wenn irgend möglich, nicht in die Wohnungen hinein, um die Kontaktmöglichkeit mit dem Virus gering zu halten. Mein Fahrer liest mit noch mehr Abstand, ohne Kittel aber mit Atemschutz und Handschuhen, die Karte ein und bereitet die Zettel für Verwaltung, Labor und Gesundheitsamt vor, während ich die Patienten befrage, abstreiche und berate.
Die erste Adresse ist ein 50jähriger Mann, fiebrig, schwer am Husten, aber insgesamt in stabilem Zustand. Gefühlt wohnen alle, die wir besuchen sollen, mindestens im fünften Stock, so hat die Arbeit auch einen gewissen sportlichen Aspekt. Wir sind pingelig im Abstandhalten, die herausgereichte Versicherungskarte wird desinfiziert, bevor sie im Lesegerät landet, gebrauchtes Material und meine Verkleidung bleiben beim Patient, sie werden vor die geschlossene Wohnungstür gelegt und, wenn wir weg sind, dort im Hausmüll entsorgt.
Dann geht’s in ein Seniorenheim. Eine alte Dame hat Fieber und hustet, sie hatte immer wieder Besuch von einer Angehörigen, die im Skiurlaub in Tirol war. Das Personal ist sehr besorgt, auf keinen Fall wollen sie im Heim das Virus verbreiten, falls es denn die Ursache für die Erkrankung ist, aber auch die Pflegerin, die mit mir hinein geht, um der alten Dame den Kopf zu halten, hat keinen ausreichenden Atemschutz. Die etwas verwirrte Patientin schaut erschreckt aus ihren Kissen hervor, die Maske verhindert leider, daß man die erste, Frieden verheißende und beste Begrüßung, ein Lächeln, sehen kann. Vom Abstrich ist sie dann noch weniger begeistert, es ist unangenehm, tief im Rachen und in der Nase berührt zu werden und fast will sie das Stäbchen abbeißen, aber dann klappt es doch. Im Personalraum besteht noch Beratungsbedarf, wann kommt das Ergebnis, wie soll bis dahin verfahren werden?
Die nächste Adresse ist eine Familie mit drei kleinen Kindern. Alle husten, haben und hatten mehr oder weniger Fieber und sollen abgestrichen werden, die Kinder sind noch neugierig und freundlich, aber wir beschließen, nach den Eltern nur einem, dem ältesten, die unangenehme Prozedur zuzumuten, sowieso bleiben ja alle für die Quarantänezeit zuhause. Es gibt, wie erwartet, großes Gebrüll und wildes Gezappel, gut, dass die Eltern noch fit genug sind, das Mädel fest zu halten.
Bei der nächsten Familie, wo nur der Papa symptomatisch ist und abgestrichen wird, richten wir die Unterlagen auf der Holzbank im üppig blühenden Vorgärtchen und hinterlassen Grüsse – ich kenne die Eltern aus unserer Kirchengemeinde.
So geht es weiter durch den Tag, unterbrochen von einer kleinen Mittagspause mit Käsebrot im Auto. Alle sind geduldig und motiviert, auch mein Begleiter faltet immer wieder unverdrossen seine zwei Meter hinter das Lenkrad und trägt heute dauerhaft seine Maske, da er am Morgen erfahren hat, dass sein Begleitdoktor von gestern Symptome entwickelt hat. Ich mag diese Arbeit – man kann sich gut schützen, die Arbeitszeiten sind freundlicher als in meinen längeren Nachtdiensten. Und – man kommt durch’s Ländle!
Ein fliederfarbenes Kostuem, dazu flache, bequeme Sportschuhe in Hellgruen. Rose, kugelrund, ist langjaehrige Sozialarbeiterin, ehemalige Matharebewohnerin und fuer den Marsch durch das Pfadelabyrinth gut geruestet.
Bis in die Felsen am Rande des Tals hineingebaut, jeder Meter, der als Baugrund zu haben ist, genutzt, reiht sich Wellblechverschlag an Wellblechverschlag. Keiner wie der andere, jedes Bauwerk individuell zusammengesetzt aus Wellblech, Abfallmaterial, alten Schildern, Plastikplanen, Brettern. Aneinandergefuegt mithilfe von Naegeln, die teils mit Kronenkorken unterpolstert sind, um die Bleche nicht auszureissen. Farbspuren, hier und da Malerisches zur Verzierung. Schriftzuege. Nummern.
Schmal sind die Durchgaenge, felsig, sandig, mit nicht wiederverwertbarem Muell uebersaet, von trueben Abwasserrinnsalen durchzogen, von Waescheleinen ueberspannt. Ueberall ist jemand am Waschen, und es ist Ehrensache, es sich zumindest ausserlich nicht anmerken zu lassen, wo man wohnt.
Rose hat einen Leinenbeutel mit wichtigen Dingen geschultert. Ein paar Malariamedikamente, etwas gegen Schmerzen, das dreieckige Holzkaestchen mit Luecke an einer Spitze zum Tablettenzaehlen, die auszufuellenden Formulare der registrierten Tuberkulose- und HIV-Patienten. Ein grosses Stofftaschentuch, um die Schweissperlen von der Stirn zu wischen. Ihr taeglicher Gang durch Mathare ist ein langsamer, denn Rose kennt unzaehlige Menschen. Hier ein Gruss, dort ein Haendedruck, hier eine Ansprache, dort ein Rat. Besorgte und lachende Gesichter. Wie anderswo auch.
Erstes Ziel auf dem Weg ist eine Familie, bei denen neben dem freundlichen Gespraech, wie es geht, die Tabletteneinnahme kontrolliert werden muss. Vater, Mutter und jugendlicher Sohn – alle drei aidskrank und auf Tuberkulosetherapie, leben gemeinsam auf ca. 9qm, die nocheinmal durch einen Vorhang in Sitz- und Schlafbereich unterteilt sind. Als Tapete dienen alte Zeitungen oder Plasiktueten, im besten Fall eine Gardine, die Habseligkeiten sind im Raum und an den Waenden aufgestapelt. Waschbuetten, Koffer, Geschirr, Kleidung in Saecken. Ein Durchgangsquartier eigentlich, so war es einmal gedacht, und wird fuer manche doch zur dauerhaften Behausung.
Der alte Vater ist stark erkaeltet. Ein Problem, das noch einfach zu loesen ist und deshalb nur am Rande gestreift wird. Wichtiger ist die regelmaessige Einnahme der HIV- und Tuberkulosetherapie. Die Tabletten werden gezaehlt, mit den Vorstellungsterminen in der Klinik verglichen und in einem Formblatt eingetragen. Rose ist streng. Wenn auch nur zwei Einnahmen nicht erfolgt sind oder eine Tablette zu wenig ist, werden Termine verschoben und, wie sie selbst spaeter schmunzelnd erklaert, Stress gemacht. Das Risiko, eine multiresistente Tuberkulose, eine HIV-Therapie, die nicht mehr anschlaegt, ist zu hoch. Aber Rose lobt auch – der Sohn der Familie, jetzt wieder in viel besserem Zustand als noch vor einem halben Jahr, lagert die Medikamente ordentlich sortiert in einem Holzkaestchen. Da gebe es ganz andere Patienten, sagt Rose und der junge Mann strahlt.
Es geht weiter zwischen Blechwaenden, unter Waescheleinen hindurch. Ein Huhn ergreift die Flucht. Drei Maedels, schmuck frisiert und in Schuluniform, wollen Haende schuetteln. Naechste Station ist der Verschlag einer alten, herzkranken Dame, Ihre Huette ist aehnlich aufgeteilt, sie wohnt hier zusammen mit ihren vier Enkeln, nachdem beide Eltern gestorben sind. Auch hier ist alles sauber und ordentlich, wenn auch aermlich und karg. Die alte Dame traegt ein graues T-shirt mit drei aufgestickten Giraffen, fleckenfrei und fein gebuegelt. Sie sei in Sorge um die Enkel, sagt sie, die Lehrer streiken, die Schule faellt aus. Was, wenn die Enkel nicht den Weg heraus aus der Enge und Armut schaffen? Rose schaut sich die Tabletten an, die in einem Stoffsaeckchen aufgehoben werden. Alles ist noch genuegend vorhanden.
Der Trampelpfad, jetzt eine Kletterpartie bergauf ueber Felsbrocken, Kuechenabfalle und alte Plastiktueten, fuehrt zu einer jungen Mutter hinauf, die mit fuenf Kindern auf den denselben 9 qm wohnt. Das kleinste, gerade 8 Monate alt, hat ein kummervolles, wenn auch gut genaehrtes Gesichtchen und sitzt lethargisch am Bettrand. Spielzeug gibt es keins. Zeit zum Spielen und Weltentdecken ist kaum. Die naechstgeborenen Maedchen spielen Handabklatschen. Ein groesserer Junge steht vor der provisorischen Tuer und schaut nach einem kleineren, der nackt und sandig auf der blossen Erde sitzt. Die Mutter ist mager, hat aber ein offenes und klares Gesicht. Die Huette ist ordentlich und sauber. Die Tablettenzahlen fuer die HIV- und Tuberkulosetherapie stimmen exakt. Nur die Haende machen ihr Sorgen, die Arthritis der Fingergelenke bringt sie noch um die Arbeit als Waescherin. Wie solle es weitergehen, wenn sie nicht mit ihren Haenden arbeiten kann?
Draussen treffen wir einen jungen Mann, voellig verschwitzt, aus der Nachbarhuette. Er hat ein neues Motorrad gekauft, noch sind die Lenkergriffe mit Plastikfolie ueberzogen, es strahlt und glaenzt. Er will sich als Taxifahrer selbstaendig machen. Jetzt wuchtet er das gute Stueck hinauf zu der der Huette seiner Familie.
Es geht weiter zu einem Paar mit zwei kleinen Jungen. Die rohen Waende sind mit schwarzen Plastiktueten bedeckt, auf dem Kohleoefchen ist gerade der Maisbrei fertiggeworden. Die vier Zahnbuersten der Familie schauen wie kunterbunte Stengel aus eine Schale, die auf der kleinen Stereonanlage ruht, aus den Lautsprechern scheppert Musik, in der die Sonne scheint. Rose ist stolz auf den Familienvater, der seine Medizin ordentlich nimmt und mit dem Trinken aufgehoert hat. Sieht man die Menschen ausserhalb ihrer Umgebung, wuerde man keine Wohnung wie diese erwarten. Gepflegt, sauber, in gewisser Weise selbstbewusst. Auch die Vorstellung in unseren Behandlungszimmern in der Klinik erfolgt stets in der besten Kleidung, sehr gepflegt und frisch gebadet. Solange Ordnung und Schoenheit anwesend sind, dist die Hoffnung nicht unterzukriegen.
Weiter geht es, hinaus aus der bruetenden Hitze des kleinen Raumes, nach draussen. Wir kreuzen die Hauptgasse, wo sich viele winzige Laedchen aneinanderreihen. Hier kann man Guthaben fuers Handy, dort ein paar Bananen, kleine getrocknete Fische und frisches Gebaeck kaufen.
Auch bei der naechsten kleinen Familie im Wellblechbau hat Rose ein Auge fuer das, was gut klappt und lockt es auch mit Vergnuegen zum Vorschein. Der Familienvater kann nicht mehr laufen und nur noch muehsam sprechen. Eine HIV-assoziierte Kryptokokkenenzephalitis hat ihm die Mobilitaet genommen und teilweise die Sprache verschlagen. Er spricht langsam und schwer verstaendlich. Aber die beiden kleinen Maechen, fein und farblich Ton in Ton gekleidet, sind gesund, da beide Eltern sehr verlasslich die Medikamente nehmen und die Mutter damit eine Uebertragung von HIV in der Schwangerschaft verhindern konnte.
Ob Rose ihre Besuche angekuendigt habe, frage ich sie draussen? Nein. Alle sind unvorbereitet, sie melde sich nicht an. Es ist nicht eine Fassade, was ich sehe, sondern der taegliche Versuch, sich im Elend ein Stueck Wuerde zu bewahren.
Letztes Ziel ist wieder eine sehr hagere Grossmutter, die ihr kleinstes, jetzt krankes Enkelkind auf dem Schoss haelt. Von weit im Norden stammt sie, spricht gut englisch und hat auch bisher gut fuer die Kleinen sorgen koennen, im Moment ist es aber gerade ein bisschen viel an Herausforderungen, sagt sie, und sieht sehr muede aus. Die zwei eigenen Enkel- und zwei Nachbarskinder sitzen still auf dem abgewetzten, blauen Sofa, aus dem an den Seiten die Fuellung heraushaengt und schauen aengstlich auf die beiden Besucher, immerhin ist eine Weisse mit vier Augen (also mit Brille) dabei. Es ist heiss und stickig in dem dunklen Raeumchen, durch die Loecher in den Blechwaenden scheint die Sonne wie Sterne am dunklen Nachthimmel. Das Kleinste ist quaengelig, glueht vor Fieber. Rose beschliesst kurzerhand, die beiden mit nach Baraka zu nehmen. Wir machen uns auf den Weg zurueck zur Klinik. Gut, jemanden dabei zu haben, die den Weg durch das unuebersichtliche Wegelabyrinth kennt.
Mathare Valley zu beschreiben, ist nicht einfach. Kein einzelnes Adjektiv trifft nur allein zu. Das Glas ist zugleich halbvoll und halbleer. Die Umstaende sind grauenvoll und doch gelinget es immer wieder auch dem einen oder anderen, das beste daraus zu machen. Es ist moeglich, kaum etwas zu haben und trotzdem mit dem Winzigkleinen etwas neues zu versuchen. Und wenn es nur der Verkauf von kleinen Erdnusspaeckchen ist, oder einer Handvoll Fische. Es gilt, nicht angesichts des Wenigen zu kapitulieren, sondern die Hoffnung nicht aufzugeben. Man koennte schreiben:“ Das Elend ist unueberschaubar. Es erschaegt und laesst verstummen“. Das stimmt wohl, ist aber nur die Haelfte des Ganzen. Man koennte auch schreiben: „Ueberall sind wohl Muedigkeit, aber auch kleine Spuren von Hoffnung zu finden, an Orten und in Gesichtern, und der Wille, das Wenige zum Guten und auf Zukunft hin zu gestalten.“ Auch das ist wahr und nicht zu uebersehen, wenn man nur genau hinschaut…