Ein fliederfarbenes Kostuem, dazu flache, bequeme Sportschuhe in Hellgruen. Rose, kugelrund, ist langjaehrige Sozialarbeiterin, ehemalige Matharebewohnerin und fuer den Marsch durch das Pfadelabyrinth gut geruestet.
Bis in die Felsen am Rande des Tals hineingebaut, jeder Meter, der als Baugrund zu haben ist, genutzt, reiht sich Wellblechverschlag an Wellblechverschlag. Keiner wie der andere, jedes Bauwerk individuell zusammengesetzt aus Wellblech, Abfallmaterial, alten Schildern, Plastikplanen, Brettern. Aneinandergefuegt mithilfe von Naegeln, die teils mit Kronenkorken unterpolstert sind, um die Bleche nicht auszureissen. Farbspuren, hier und da Malerisches zur Verzierung. Schriftzuege. Nummern.
Schmal sind die Durchgaenge, felsig, sandig, mit nicht wiederverwertbarem Muell uebersaet, von trueben Abwasserrinnsalen durchzogen, von Waescheleinen ueberspannt. Ueberall ist jemand am Waschen, und es ist Ehrensache, es sich zumindest ausserlich nicht anmerken zu lassen, wo man wohnt.
Rose hat einen Leinenbeutel mit wichtigen Dingen geschultert. Ein paar Malariamedikamente, etwas gegen Schmerzen, das dreieckige Holzkaestchen mit Luecke an einer Spitze zum Tablettenzaehlen, die auszufuellenden Formulare der registrierten Tuberkulose- und HIV-Patienten. Ein grosses Stofftaschentuch, um die Schweissperlen von der Stirn zu wischen. Ihr taeglicher Gang durch Mathare ist ein langsamer, denn Rose kennt unzaehlige Menschen. Hier ein Gruss, dort ein Haendedruck, hier eine Ansprache, dort ein Rat. Besorgte und lachende Gesichter. Wie anderswo auch.
Erstes Ziel auf dem Weg ist eine Familie, bei denen neben dem freundlichen Gespraech, wie es geht, die Tabletteneinnahme kontrolliert werden muss. Vater, Mutter und jugendlicher Sohn – alle drei aidskrank und auf Tuberkulosetherapie, leben gemeinsam auf ca. 9qm, die nocheinmal durch einen Vorhang in Sitz- und Schlafbereich unterteilt sind. Als Tapete dienen alte Zeitungen oder Plasiktueten, im besten Fall eine Gardine, die Habseligkeiten sind im Raum und an den Waenden aufgestapelt. Waschbuetten, Koffer, Geschirr, Kleidung in Saecken. Ein Durchgangsquartier eigentlich, so war es einmal gedacht, und wird fuer manche doch zur dauerhaften Behausung.
Der alte Vater ist stark erkaeltet. Ein Problem, das noch einfach zu loesen ist und deshalb nur am Rande gestreift wird. Wichtiger ist die regelmaessige Einnahme der HIV- und Tuberkulosetherapie. Die Tabletten werden gezaehlt, mit den Vorstellungsterminen in der Klinik verglichen und in einem Formblatt eingetragen. Rose ist streng. Wenn auch nur zwei Einnahmen nicht erfolgt sind oder eine Tablette zu wenig ist, werden Termine verschoben und, wie sie selbst spaeter schmunzelnd erklaert, Stress gemacht. Das Risiko, eine multiresistente Tuberkulose, eine HIV-Therapie, die nicht mehr anschlaegt, ist zu hoch. Aber Rose lobt auch – der Sohn der Familie, jetzt wieder in viel besserem Zustand als noch vor einem halben Jahr, lagert die Medikamente ordentlich sortiert in einem Holzkaestchen. Da gebe es ganz andere Patienten, sagt Rose und der junge Mann strahlt.
Es geht weiter zwischen Blechwaenden, unter Waescheleinen hindurch. Ein Huhn ergreift die Flucht. Drei Maedels, schmuck frisiert und in Schuluniform, wollen Haende schuetteln. Naechste Station ist der Verschlag einer alten, herzkranken Dame, Ihre Huette ist aehnlich aufgeteilt, sie wohnt hier zusammen mit ihren vier Enkeln, nachdem beide Eltern gestorben sind. Auch hier ist alles sauber und ordentlich, wenn auch aermlich und karg. Die alte Dame traegt ein graues T-shirt mit drei aufgestickten Giraffen, fleckenfrei und fein gebuegelt. Sie sei in Sorge um die Enkel, sagt sie, die Lehrer streiken, die Schule faellt aus. Was, wenn die Enkel nicht den Weg heraus aus der Enge und Armut schaffen? Rose schaut sich die Tabletten an, die in einem Stoffsaeckchen aufgehoben werden. Alles ist noch genuegend vorhanden.
Der Trampelpfad, jetzt eine Kletterpartie bergauf ueber Felsbrocken, Kuechenabfalle und alte Plastiktueten, fuehrt zu einer jungen Mutter hinauf, die mit fuenf Kindern auf den denselben 9 qm wohnt. Das kleinste, gerade 8 Monate alt, hat ein kummervolles, wenn auch gut genaehrtes Gesichtchen und sitzt lethargisch am Bettrand. Spielzeug gibt es keins. Zeit zum Spielen und Weltentdecken ist kaum. Die naechstgeborenen Maedchen spielen Handabklatschen. Ein groesserer Junge steht vor der provisorischen Tuer und schaut nach einem kleineren, der nackt und sandig auf der blossen Erde sitzt. Die Mutter ist mager, hat aber ein offenes und klares Gesicht. Die Huette ist ordentlich und sauber. Die Tablettenzahlen fuer die HIV- und Tuberkulosetherapie stimmen exakt. Nur die Haende machen ihr Sorgen, die Arthritis der Fingergelenke bringt sie noch um die Arbeit als Waescherin. Wie solle es weitergehen, wenn sie nicht mit ihren Haenden arbeiten kann?
Draussen treffen wir einen jungen Mann, voellig verschwitzt, aus der Nachbarhuette. Er hat ein neues Motorrad gekauft, noch sind die Lenkergriffe mit Plastikfolie ueberzogen, es strahlt und glaenzt. Er will sich als Taxifahrer selbstaendig machen. Jetzt wuchtet er das gute Stueck hinauf zu der der Huette seiner Familie.
Es geht weiter zu einem Paar mit zwei kleinen Jungen. Die rohen Waende sind mit schwarzen Plastiktueten bedeckt, auf dem Kohleoefchen ist gerade der Maisbrei fertiggeworden. Die vier Zahnbuersten der Familie schauen wie kunterbunte Stengel aus eine Schale, die auf der kleinen Stereonanlage ruht, aus den Lautsprechern scheppert Musik, in der die Sonne scheint. Rose ist stolz auf den Familienvater, der seine Medizin ordentlich nimmt und mit dem Trinken aufgehoert hat. Sieht man die Menschen ausserhalb ihrer Umgebung, wuerde man keine Wohnung wie diese erwarten. Gepflegt, sauber, in gewisser Weise selbstbewusst. Auch die Vorstellung in unseren Behandlungszimmern in der Klinik erfolgt stets in der besten Kleidung, sehr gepflegt und frisch gebadet. Solange Ordnung und Schoenheit anwesend sind, dist die Hoffnung nicht unterzukriegen.
Weiter geht es, hinaus aus der bruetenden Hitze des kleinen Raumes, nach draussen. Wir kreuzen die Hauptgasse, wo sich viele winzige Laedchen aneinanderreihen. Hier kann man Guthaben fuers Handy, dort ein paar Bananen, kleine getrocknete Fische und frisches Gebaeck kaufen.
Auch bei der naechsten kleinen Familie im Wellblechbau hat Rose ein Auge fuer das, was gut klappt und lockt es auch mit Vergnuegen zum Vorschein. Der Familienvater kann nicht mehr laufen und nur noch muehsam sprechen. Eine HIV-assoziierte Kryptokokkenenzephalitis hat ihm die Mobilitaet genommen und teilweise die Sprache verschlagen. Er spricht langsam und schwer verstaendlich. Aber die beiden kleinen Maechen, fein und farblich Ton in Ton gekleidet, sind gesund, da beide Eltern sehr verlasslich die Medikamente nehmen und die Mutter damit eine Uebertragung von HIV in der Schwangerschaft verhindern konnte.
Ob Rose ihre Besuche angekuendigt habe, frage ich sie draussen? Nein. Alle sind unvorbereitet, sie melde sich nicht an. Es ist nicht eine Fassade, was ich sehe, sondern der taegliche Versuch, sich im Elend ein Stueck Wuerde zu bewahren.
Letztes Ziel ist wieder eine sehr hagere Grossmutter, die ihr kleinstes, jetzt krankes Enkelkind auf dem Schoss haelt. Von weit im Norden stammt sie, spricht gut englisch und hat auch bisher gut fuer die Kleinen sorgen koennen, im Moment ist es aber gerade ein bisschen viel an Herausforderungen, sagt sie, und sieht sehr muede aus. Die zwei eigenen Enkel- und zwei Nachbarskinder sitzen still auf dem abgewetzten, blauen Sofa, aus dem an den Seiten die Fuellung heraushaengt und schauen aengstlich auf die beiden Besucher, immerhin ist eine Weisse mit vier Augen (also mit Brille) dabei. Es ist heiss und stickig in dem dunklen Raeumchen, durch die Loecher in den Blechwaenden scheint die Sonne wie Sterne am dunklen Nachthimmel. Das Kleinste ist quaengelig, glueht vor Fieber. Rose beschliesst kurzerhand, die beiden mit nach Baraka zu nehmen. Wir machen uns auf den Weg zurueck zur Klinik. Gut, jemanden dabei zu haben, die den Weg durch das unuebersichtliche Wegelabyrinth kennt.
Mathare Valley zu beschreiben, ist nicht einfach. Kein einzelnes Adjektiv trifft nur allein zu. Das Glas ist zugleich halbvoll und halbleer. Die Umstaende sind grauenvoll und doch gelinget es immer wieder auch dem einen oder anderen, das beste daraus zu machen. Es ist moeglich, kaum etwas zu haben und trotzdem mit dem Winzigkleinen etwas neues zu versuchen. Und wenn es nur der Verkauf von kleinen Erdnusspaeckchen ist, oder einer Handvoll Fische. Es gilt, nicht angesichts des Wenigen zu kapitulieren, sondern die Hoffnung nicht aufzugeben. Man koennte schreiben:“ Das Elend ist unueberschaubar. Es erschaegt und laesst verstummen“. Das stimmt wohl, ist aber nur die Haelfte des Ganzen. Man koennte auch schreiben: „Ueberall sind wohl Muedigkeit, aber auch kleine Spuren von Hoffnung zu finden, an Orten und in Gesichtern, und der Wille, das Wenige zum Guten und auf Zukunft hin zu gestalten.“ Auch das ist wahr und nicht zu uebersehen, wenn man nur genau hinschaut…