sabinewaldmannbrun

Farbe. Linie. Sehen.


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Nacht

Sonntagnacht, 3 Uhr. Plötzlich Schreie vor unserem Hoftor. Hilfe, Hilfe, ich brauche Hilfe, schreit eine Frau, offensichtlich in grosser Not. Es dauert ein bisschen, bis ich ganz wach bin. Im Halbschlaf denke ich als erstes an Gewalt. Gewalt gegen Frauen ist ein beständiges Thema. Die Schreie reissen nicht ab. Jetzt wird Sturm geklingelt an unserem Hoftor. Was soll ich tun? Die anderen wecken? Sollen wir um diese Zeit im Dunkeln das Tor öffnen? Hinausgehen? Ich bin hin und hergerissen. Von meinen eigenen Mitbewohnern ist nichts zu hören. Die Männer scheinen fest zu schlafen.

Wieder wird Sturm an unserem Hoftor geklingelt. Das Auto mit der Aufschrift German Doctors parkt schliesslich vor der Tür. Und wenn jemand medizinische Hilfe braucht? Wir haben ja kaum etwas hier… Draussen fährt ein Auto vor, eine Männerstimme sagt, es werde ein Arzt gebraucht, die Schreie der Frau werden leiser. Das Auto fährt. Ist sie eingestiegen? Liegt am Ende jemand vor dem Tor und braucht Hilfe?

Jetzt bin ich ganz wach. Stehe auf, gehe die Treppe hinunter. Im Dunkeln an der Haustür steht die andere Kollegin und weiss nicht, was tun. Von den Männern ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Wir beschliessen, nachzusehen. Es ist ruhig draussen. Durch die kleine Klappe am Metalltor ist nichts und niemand zu sehen. Wir schliessen auf, ich schaue, ob jemand vor unserer Tür oder in der Nähe  liegt, aber es ist niemand zu sehen.

Der Vorfall ist lange Gesprächsthema. Hätten wir früher etwas tun sollen? Und was? Hätten wir damit den Unfall vermeiden können? Immer wieder frage ich die Guards am Tor, ob sie etwas davon wissen. Nach drei Tagen endlich hören wir, was wirklich vorgefallen ist. Die Nachbarin von zwei Häusern weiter hatte Atemnot. Ihre Verwandte lief nach draussen und schrie um Hilfe. Nachdem keiner reagierte, luden sie die Kranke ins Auto und fuhren in Richtung Stadt zum nächsten Krankenhaus. Auf dem Weg hatten sie einen schrecklichen Unfall, der Vater der Kranken starb, die Mutter wurde auf der Intensivstation behandelt.

Jetzt hören wir am Abend immer Gesang, Freunde und Verwandte kommen, die Seele des Vaters zu verabschieden und der Familie beizustehen, Mutter und Tochter geht es zumindest gesundheitlich besser. Ich gehe zu den Nachbarn und richte mein Beileid aus. Und sage, wir wären ratlos gewesen und deshalb so langsam im Reagieren. Auch hätten wir eigentlich kein medizinisches Equipment hier zuhause. Gleichmütig und freundlich wird die Anteilnahme entgegen genommen. Es gibt keine Vorwürfe, es gibt keine Fragen, zumindest von Seiten der Betroffenen. Für uns bleiben einige Fragen offen…

http://www.german-doctors.de

(Danke an die Kollegen für das Foto!)


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Nachtaktivitäten II – ein schwäbisches Roadmovie

Gerade ist die letzte Patientin mit Bauchweh versorgt – Dienstschluss, Null Uhr.

46 km von zuhause entfernt. Der hiesige Bahnhof hat bereits die Bahnsteige hochgeklappt. Beim flüchtigen Blick auf den Fahrplan bei Ankunft hatte ich gesehen, dass vom nächstgrösseren Ort um Null Uhr 40 noch ein Zug fahren müsste. Der Sanitäter und der bis zum Morgen verpflichtete Kollege, ein grosser, sportlicher Endsechziger, haben auf mich gewartet und bringen mich nun, väterlich fürsorglich, mit dem Einsatzfahrzeug die 12 Kilometer bis zum kleinstädtischen Bahnhof. Sie geben mir noch gute Wünsche mit auf den Weg und dass mich kein „Unhold“ belästigen möge.

Nachdem die beiden zur nächsten Leichenschau abgefahren sind, entdecke ich auf dem nun genauer studierten Fahrplan zwei kleine Zeichen neben der Abfahrtszeit: der Zug um Null Uhr 40 fährt nur am Wochenende. Der nächste Zug von diesem Bahnhof fährt erst um 5 Uhr nochwas. So lange möchte ich nun doch nicht auf einer Bank im Dunkeln warten. Vielleicht gibt es noch irgendwo andere Übriggebliebene, die in die gleiche Richtung müssen? Der Bahnhof ist gähnend leer bis auf einen jungen Mann, der zwar auch nach Stuttgart muss – geteilte Taxikosten wären immerhin nur halb so hoch – nun aber beschliesst, bei einem Kumpel vor Ort zu übernachten.

Der Fahrkartenautomat steht mit weiteren Informationen bereit: es gibt, wiederum von einem 18 km entfernten Vorort Stuttgarts, in 20 Minuten noch eine S-Bahn, die mit einem ICE verbindet, der wiederum zum Hauptbahnhof fährt. Das wäre einen Versuch wert. Ich heuere ein Taxi an, der Fahrer, freundlich kooperativ, braust über diverse dunkelgelbe Ampeln und wir erreichen den Vorortbahnhof in guter Zeit.

Vor dem ebenfalls nur von einigen schwankenden Gestalten bevölkerten Bahnhof steht eine junge Frau mit drei verschiedenen Haarfarben und einem Ringlein in der Nase, die intensiv ihr Smartphone studiert. Es könnte ja sein, das Ziel wäre ein ähnliches, ich frage – nein, sie muss Richtung Tübingen, und der Kumpel, der zum Abholen bestellt ist, lässt auf sich warten. Aber Stuttgart liegt ja immerhin auf dem Weg nach Tübingen  und der Kumpel sei ein netter, vielleicht könnte der mich ja ein Stück mitnehmen.

Wir warten ein Weilchen gemeinsam. Stellen gewisse berufliche Parallelen fest.  Der Kumpel lässt auf sich warten. 1 Uhr. 1 Uhr 10. Der Kumpel schickt eine SMS, er habe jetzt das Navi aktiviert. Es bestehe noch Hoffnung. Ich bin gespannt, ob auch für mich Hoffnung besteht, mitzufahren.

1 Uhr 15. Ein Lieferwagen fährt vor. Ah, der Kumpel hat den Firmenwagen gechartert. Ja, klar, ich könne schon mitfahren. Eine ältere, sehr betrunkene Dame nähert sich und möchte sich anschliessen. Sie bietet uns auch grosszügig aus ihrer Flasche an. Der Lieferwagen hat nur drei Sitze.

Wir rumpeln durch die Vorortstrassen, das Navi hat den schnellsten und scheinbar kurvenreichsten Weg ausgesucht. Es riecht nach Farbe und nasser Tapete. Der Kumpel entdeckt diverse berufliche Parallelen. Man sei ja auch für die Gesundheit von Gebäuden zuständig. Die gähnend leeren Strassen verführen zum schnelleren Fahren als erlaubt – das Navi sorgt für eine zusätzliche Geräuschkulisse. Da der Kumpel Sorge hat, auf einem Schnappschuss um 1 Uhr 30 mit zwei unbekannten Damen im Firmenwagen abgelichtet zu werden, wird ab jetzt die Geschwindigkeitsbegrenzung beachtet. So  tuckert das dreierlei Gesundheitspersonal gemütlich in die von allen gewünschte Richtung.

Um Punkt 2 Uhr bin ich zuhause. Eine unterhaltsame Reise mit vielen freundlichen Begleitern, aber völlig unvorhersehbar. Das Management der Bahn könnte man befragen, warum eigentlich nur am Wochenende die S-Bahn nachts immerhin fast stündlich fährt. Die schwäbische Welt besteht ja nicht nur aus Partygästen, hin und wieder arbeitet auch mal jemand länger…..