sabinewaldmannbrun

Farbe. Linie. Sehen.


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Dr. Peter fällt um

Nachdem Dr. Peter mir bereits in Nairobi gute Dienste geleistet hatte, indem er mit verschiedenen Diagnosen immer mal umfiel und damit meine Studenten in der Fortbildung sich überlegen mussten, was man in den verschiedenen Zuständen mehr oder weniger schnell tun muss, hatte ich mir auch hier eine Geschichte ausgedacht. Eine Art Detectivestory, die sich am allerbesten zusammen, im Team lösen lässt, so wie ja auch in der echten Arbeit im Alltag. Mal hat er zu wenig getrunken, mal ist er unterzuckert, mal fallen ihm dicke Bücher auf den Kopf, und am Schluss muss er noch reanimiert werden. Im Prinzip ist es immer dasselbe: atmet er? ja? nein? was macht man dann? Lagerung? Untersuchungen, falls er nicht wach wird? Erste Hilfe halt. 

Donnerstagmorgens ist die große Fortbildung, da ist es Pflicht, zu kommen. Der Saal ist voll, aber einige haben sich schonmal weit hinten platziert. Vermutlich, weil ich schon beim letzten Mal ein paar Fragen zwischendurch gestellt hatte. Ich finde ja, man lernt am besten, wenn man nicht den Vortrag an sich vorbei rauschen lässt, sondern mitdenken muss…

Ich lade zum Umzug in die vorderen Reihen ein, was sich, etwas zäh zwar, aber doch machen lässt. Erzähle ein bisschen, warum ich diese Fortbildung mache und was ich damit im Sinn habe. Stelle Dr. Peter vor und was er so tut, und dann lasse ich ihn das erste mal umfallen. Erschreckte Gesichter. 

So, what will you do now? frage ich. Schweigen. Ratlosigkeit, einige sehen aus, als wollten sie am liebsten die Flucht ergreifen. Zwei verlassen den Raum. Ich denke an den Onkel einer Freundin, ebenfalls Arzt, der zur Maximalprovokation seiner Studenten immer mal selbst den Umfallenden spielte. So weit wollen wir es nun doch nicht treiben. Ich frage nochmal. Was tut ihr? Am Boden liegt euer Kollege und rührt sich nicht mehr! Schweigen. Ich schaue ein paar Leute intensiv an. Endlich meldet sich einer und erzählt von ABC. Eine gute Idee! Das ist doch schonmal was. 

Die gesamte Fortbildung zieht sich äußerst zäh dahin. Was in Nairobi überhaupt kein Problem war, ist in Tanzania auf dem platten Land scheinbar schon eins. Sehr mühsam bekommen wir den Doktor schließlich reanimiert und therapiert. Keiner hat gelacht, keiner hat rasch reagiert, lediglich der ebenfalls hustende Kollege von der Männerstation hat dann doch eifrig mitgemacht und sich am Schluss nochmal herzlich für die Fortbildung bedankt. 

Natürlich interessiert mich, was da so schwierig war.

„Sie sind das nicht gewohnt“, sagt die headnurse, die auch, zwar später erst, und recht leise, aber dann doch mitgemacht hat. „Normalerweis sitzen sie da und lassen sich mit einem Vortrag berieseln. Auch verstehen nicht alle so gut englisch“. 

Und das Wissen? „Das gut ausgebildete Team vom letzten Jahr ist leider nicht mehr da. Fast alle sind neu, und da gab’s noch keine Erste-Hilfe-Ausbildung. Man kann nicht bei allen erwarten, dass sie selbst handeln. Auch gerade die Schwestern, die nur eine Grundausbildung haben, sie würden den Patient nicht anrühren, sondern versuchen, einen Doktor anzurufen“.

„Ach, ich hab gedacht, ich warte mal, ob die anderen nicht was sagen“, meint einer meiner Docs. „Aber du bist doch fit und weißt das alles, warum läßt du dein Licht nicht leuchten“, frage ich? Er zuckt mit den Achseln und lächelt freundlich. 

„Sie mögen es nicht, wenn man Fragen stellt“, sagt die Ehefrau vom holländischen Gastchirurg. „Fragen stellen ist unhöflich. Das darf man als Mädchen auch im Dorf nicht, man bekommt eine Backpfeife, wenn man sich nicht daran hält“.

„Ja nun. Kann man das nicht differenzieren?“, frage ich. „Wie soll man denn unterrichten, ohne Fragen zu stellen?“ 

„Du mußt einen rauspicken“, sagt die headnurse, „der soll antworten“. Die Methode scheint mir ziemlich grob und nicht mein Ding. Ich lade lieber ein, als zu verpflichten…

Die kleinen Fortbildungen, die ich immer mal wieder außerhalb der Arbeitszeit einflechte, mit Untersuchungstechniken – einer stellt z.B. sein Knie zur Verfügung, dann wird gezeigt, wie welche Struktur etwas erzählen kann über ihren Verletzungsgrad, dann darf einer der Studenten den Untersuchungsgang für alle demonstrieren – sind deutlich dünner besucht, funktionieren aber besser, was den Mut zum Mitmachen angeht. Mal sehn, wie sich das noch so entwickelt…


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Schein und Sein – Unterwegs im ärztlichen Notdienst

Nach 10 Stunden Fahrt und Besuch zahlreicher Patienten liegt jetzt eine Anforderung der Leitstelle vor für ein Flüchtlingswohnheim. Schon hin und wieder waren wir dort im Einsatz – es ist sicherlich das am meisten heruntergekommene im ganzen Landkreis. Ein altes, verwahrlostes Gebäude, in dem überall die Farbe blättert, die Heizung im Winter ausfällt, wo keinerlei Anzeichen für eine bewußte Gestaltung oder auch nur das Aufrechterhalten eines ansehnlichen Neutralzustandes zu erkennen wären. Nur Männer leben hier, und viele von ihnen sind scheinbar die abgehängten, die erfolglosen, die nicht integrierten, die die Sprache nicht gelernt haben, die seit Jahren hier herumhängen und es geht keinen Schritt voran. Die weit hinter den Sympathiebonus, der zur Zeit den Ukrainern gewährt wird, zurückgefallen sind. Die Vergessenen in gewisser Weise. Wir sind müde und verschwitzt. Bei meinem Fahrer, eigentlich ein freundlicher und ruhiger Mann, steigt der Sarkasmusspiegel. Was die wieder wollen, brummt er. Schon oft war auch er dort, bei all den jungen, zumeist grundsätzlich gesunden Männern, die ja weder über ein Auto verfügen noch über die nötigen Kontakte, die einem nachts ein Medikament bringen könnten und deshalb hin und wieder auch bei Erkältungen oder Blähungen anrufen und einen Besuch erbitten. Auch mal nachts um 2 Uhr.

Die Leitstelle versorgt uns normalerweise mit einer sparsamen Formulierung des Problems, das es zu lösen gilt. In diesem Fall lautet die Information „Unfall vor 3 Jahren, Problem Arm“. Ungeduldige Helfer, auch verschwitze, müde, fragen sich bei dieser Formulierung zuweilen, warum ein Unfall vor 3 Jahren jetzt am Wochenende zu Unzeiten behandelt werden soll. Die Geduldigeren wissen, auch dahinter können sich unerhörte Untiefen verbergen.

Unser Patient, um die 30 Jahre alt, liegt in seinem kleinen, unpersönlichen Zimmerchen auf der abgeschabten Sitzgelegenheit. Er stammt aus einem weit entfernten Land und spricht eine Sprache, von der ich noch nie gehört habe. Er ist schon seit ein paar Jahren da, kann aber kein Deutsch oder Englisch. Immer noch nicht, könnte man jetzt einwerfen. Aber wer weiß, warum? Zwei andere junge Männer sind bei ihm, einer ist extra angereist, um zu übersetzen. Er spricht soweit Deutsch, dass man mit einfachen Fragen eine karge Anamnese hinbekommt. Vieles bleibt unbeantwortet. Unser Patient wirkt auf den ersten Blick, als könne er seine rechte Körperseite nicht bewegen. Ein Schlaganfall? Mit 30 Jahren? Kann er sich wirklich nicht bewegen? Simuliert er gar? Alles schon dagewesen. Die Untersuchungen zeigen Normalwerte, auf Schmerzreiz ist Bewegung zu sehen, mein Fahrer wird zunehmend ungeduldiger, schimpft über mangelnde Kooperation beim Blutdruckmessen. Endlich wird eine speckige alte Tasche geholt, aus der sich ein zusammengewürfelter Stapel Papiere entfaltet – Anwaltsschreiben, Rechnungen, und endlich – das hatte ich gesucht – ein Arztbrief von dem Unfall vor 3 Jahren, der, wie ich jetzt sehe, mit multiplen, schweren Verletzungen und monatelangem Klinikaufenthalt einherging. Sind die Bewegungseinschränkungen darauf zurück zu führen? In gebrochenem Deutsch wird mir gesagt, die Beschwerden kämen immer wieder einmal, dazwischen habe er laufen können. Ob sie ein Schmerzmittel haben könnten? Der Patient spricht, aber aus der marginalen Übersetzung erschließt sich nicht, was ich wissen möchte. Ich beschließe, den Patient in die Klinik einzuweisen. Wir bestellen einen Krankentransport in die Neurologie. Die Leitstelle kündigt stundenlange Wartezeiten an. Wir packen unsere Koffer und gehen.

Im Gehen bin ich hin- und hergerissen. Habe ich mich von dem Setting in dieser trostlosen Umgebung beeinflussen lassen? Von Vorurteilen? Von der Ungeduld der anderen? Will ich den Patient etwa so sparsam behandeln, wie er sowieso schon lebt, nicht aber so, wie ein deutscher Patient es zumeist vehement fordern würde? Habe ich die Situation richtig eingeschätzt? Ich rufe die Leitstelle an und fordere statt des langsamen Krankentransportes einen schnellen Rettungswagen mit Signal an.

Als ich bei der nächsten Patientin, die mit Corona im Bett liegt, verkleidet und mit Handschuhen zugange bin, höre ich von draußen mit halbem Ohr, dass die Rettungswagen-Besatzung anruft. Was sie da sollten? Das wäre doch nichts für den RTW. Sie seien „angepisst“. Alter Unfall. Und das jetzt? Heute? Ich höre, dass mein Fahrer nun doch tapfer meinen Entschluss verteidigt.

Ein paar Stunden, nachdem der Dienst geschafft ist, rufe ich in der Klinik an. Es dauert eine Weile, bis man den Patient gefunden hat, das Geburtsdatum 1.1. teilt er mit so vielen anderen, die von weit her gekommen sind – die Notaufnahme verweist auf die Stroke Unit, diese auf die Intensivstation. Dort reicht mich die Pflege an den diensthabenden Kollegen weiter. Ja, tatsächlich, unser Patient hat einen ausgewachsenen Schlaganfall, im CT unschwer zu erkennen, völlig untypisch für dieses Alter. Hätte leicht übersehen werden können, sagt der ärztliche Kollege, immerhin, bei all den schweren Vorverletzungen… Die Station freut sich über die Telefonnummer des anderen jungen Mannes, der extra zum Übersetzen angereist war. Auch hier spricht, ja kennt keiner die Muttersprache unseres Patienten…

(Die Moral von der Geschicht, obwohl sie sich vermutlich jedem sofort erschließt: VORSICHT bei vorschnellen Zuordnungen, ohne genau hingeschaut zu haben!!!!!! (gilt nicht nur in der Medizin). Und um den Spruch zu zitieren, der im ärztlichen Bereitschaftszimmer hängt: Nothing was ever achieved without passion…)


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Roadmovie 7 – Unterwegs im ärztlichen Notdienst…

Wir fahren durch schwäbisches Dorf- und Feldland, die Sonne knallt von einem wunderblauen Sommerhimmel. 34,5 Grad. Mein heutiger Fahrer ist ein Weltbürger mit großer Gelassenheit und Ruhe. Die Eltern aus zwei verschiedenen Ländern stammend, haben den Sohn in einem dritten Land zur Welt gebracht und sind dann in ein viertes geflüchtet. Hier hat der junge Mann sich mehrere Berufe erarbeitet, die ihm sowohl die Möglichkeit erschließen, beruflich zu reisen als auch einen weiteren Beruf zu haben, in dem man immer eine Anstellung findet.

Die Patientin, die wir gerade aufgesucht haben, plant ihren Untergang. Eine sehr wohlhabende Dame, mit weitläufiger Villa, aber jetzt völlig verwahrlost, da sie es zuweilen weder rechtzeitig zur Toilette schafft, noch die im Stürzen zugezogenen Wunden zu verbinden. Nichtsdestotrotz ist sie wach und reflektiert und hat ihre eigenen Ansichten und scheinbar festgemauerten Vorstellungen. In der vorherigen Woche hat sie sich bereits einmal selbst aus der Klinik entlassen, bevor man sie angemessen hätte behandeln können und heute den Rettungsdienst unverrichteter Dinge wieder weggeschickt. Dass sie ihren Tod riskiert, hatte die Sanitäterin ihr nachdrücklich gesagt, und dass sie dies bitte unterschreiben solle, dass sie es auch verstanden hat. Daß man den Rettungsdienst nicht belangen könne, wenn „etwas“ passiert…

Ich setzte mich auf ein sauberes Sofaeckchen. So viel Zeit muß sein. Versuche zu verstehen. Wir sprechen ein Weilchen miteinander. Ob sie denn lebensmüde sei, frage ich nach einer Weile? Ein gewisser Überdruss, ja. Ihr Selbstmord stehe irgendwann dann an. Aber nicht jetzt am Wochenende. Sie wisse doch, sage ich, dass ich sie in diesem Fall eigentlich auch gegen ihren Willen einweisen könnte? Dann werde sie kein Wort mehr sagen und ihren Rechtsanwalt informieren, läßt mich die Lady wissen. Außerdem will sie am Abend in Ruhe das Fußballspiel ansehen. Nein, Coronatest will sie keinen. Und nein, die Hand frisch verbinden darf ich auch nicht. Ich rufe den Kollegen in der Psychiatrieambulanz an. Eigentlich möchte ich mich mit ihm beraten, aber er ist gestresst und sehr kurz angebunden. Die Patientin soll zuerst in die Innere.

Die Patientin ist nicht willens, sich auf eine weitere Runde Klinikambulanz einzulassen. Sie geht auf keinen Fall. Nach einer Stunde mit zahllosen ausgeworfenen Ködern, die in Richtung Leben zielen, beschließe ich schweren Herzens, ihr ihren Willen zu lassen. Auch mir muß sie das unterschreiben. Da hast du dir jetzt aber viel Zeit genommen, sagt mein Fahrer staunend. Die Nachbarn, die draußen schon warten, sind weniger erfreut. Was, immer noch nicht? Es muß doch was geschehen. So geht das doch nicht weiter…

Vielleicht wird es ja gut gehen. Vielleicht auch nicht.

Nachdem wir eine Familie, vier Personen mit Covid 19, abgestrichen und untersucht haben, geht es weiter zu einem Patient, der sich schlecht fühlt. Und so sieht er auch aus, ein bißchen wie der Totenkopfring an seinem Finger, völlig abgemagert und grau, ja, die ganze Wohnung ist grau und dunkel. Offensichtlich ein Heavy Metal Fan. Zwar ergeben die Untersuchungen, die uns möglich sind, keine wesentlichen Katastrophen. Ob sich die 38 Jahre mit täglich 40 Zigaretten jetzt rächen? Er ist einverstanden, dass wir ihn einweisen.

Der nächste Patient ist guter Dinge, wenn auch genervt. Er wiegt 130kg und hört seit 2 Wochen Stimmen, die ihn abwerten und ihm sagen, er soll sich umbringen. Die Familie ist präsent, die Sonne scheint ins Zimmer, die beiden Töchter sitzen auf dem extrabreiten Toilettenstuhl wie auf einem Gartenbänkchen, um in seiner Nähe zu sein. Der Psychiater, den ich nun zum zweiten Mal heute aus seinem Trubel heraushole, verlangt zuerst internistische Abklärung, aber dann, na dann könne der Patient kommen. Die Ambulanzschwester in der Inneren, wo ich den Patient daraufhin anmelde, ist ebenfalls gestresst. Der Patient will sich also umbringen, sagt sie, dann solle er doch in die Psychiatrie. Das stimmt so nicht, der Patient möchte nur nicht dauernd von Stimmen erzählt bekommen, er sei eine Null und solle sich aufhängen. Das ist doch dasselbe, sagt sie. Ich überlasse den Kollegen, untereinander auszuhandeln, wer den Patient zuerst sieht. Wir schicken ihn in die Innere.

Der Patient allerdings ist in Sorge, wie es bei seinem Gewicht mit dem Transport gehen wird. Mein Fahrer beruhigt den Mann. Erst kürzlich habe man mit Kran einen eben so schweren Patient aus dem Dachfenster gehievt, alles sei gut gegangen. Ich stelle mir vor, unter den Augen der wachsamen Nachbarschaft im Schlafanzug mit Kran aus dem Dachfenster geholt zu werden und dann mit flatternder Schlafanzughose zum Rettungswagen hinunter zu schweben. Dem Patient allerdings gefällt die Aussicht auf kompetente Transporteure. Gut so. Ich fände das nicht so beruhigend, aber nun…

Es sind erstaunlich wenig Patienten mit Covid 19 heute. Wunderbar. Allerdings, sagt mein Fahrer, letzte Woche sei sein Cousin daran gestorben. 30 Jahre alt. Keine Vorerkrankungen.

Wir fahren durch die Altstadt zur nächsten Patientin, gerade ist das Fußballspiel zuende. Public Viewing ohne Abstand, feiernde Fans ohne Maske. Sollen wir wetten, wann die Inzidenzen wieder steigen? Eigentlich sind wir uns einig. Ende Juli spätestens? Na, mal sehn…


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Viele Farben, ein Bild

  • Am Morgen stellt sich in unserer Ambulanz eine sehr jugendliche Grossmutter mit ihrer Enkelin vor. Das Mädchen habe ein Problem mit den Beinen, ob wir da etwas ausrichten könnten? Sie wird zur Chirurgin geschickt. Das Problem begleite das Mädchen ja sicher schon seit ihrer Kindheit, frage ich vorsichtig. Die Mutter habe sich nicht um das Kind gekümmert, berichtet die Grossmutter. Als klar war, dass es behindert sei, habe es weder in die Schule gehen können noch sonst irgendeine Förderung erfahren. Sie habe allerdings die Hoffnung noch nicht aufgegeben, deshalb sei sie heute hier… Was kann man den Beiden empfehlen? Das Mädchen wirkt intelligent, kommuniziert normal, wenn auch ein wenig verlangsamt, die Hände verfügen über Feinmotorik, und sie hat eine deutliche Gehbehinderung mit Einwärtsstellung der Füsse. Und niemand hat sich je die Mühe gemacht, ihr Lesen und Schreiben beizubringen.

Physiotherapie muss selbst bezahlt werden, sie wird als individuelle Förderung in mindestens zwei Kliniken angeboten, was wiederum einen weiteren Weg beinhaltet. Eine Schulförderung wäre auch möglich, wenn die Familie es denn finanzieren kann. Ratlose Gesichter.  Ob wir erstmal klein anfangen? Die community health workers fragen, ob jemand Zeit hat, ab und zu ein bisschen zu üben, was man mit Buchstaben alles machen kann? Ja, das will sie unbedingt, sagt die Patientin, sie möchte etwas lernen. Und sie fürchte sich auch nicht vor denen, die sie auslachen könnten, wenn es nur langsam geht und länger dauert. Wir finden die Schwester eines in ihrer Nähe wohnenden Sozialarbeiters, die sich das vorstellen könnte. Vier Wochen später erzählt mir dieser, die Beiden übten zusammen. Es gehe voran.

  • Alle zwei Wochen sind wir an der Reihe, unseren Übersetzerinnen eine kleine Fortbildung zu präsentieren. Nachdem wir im letzten Jahr das Thema Rückenschmerzen vertieft und auch ein bisschen, sozusagen prophylaktisch therapeutisch getanzt hatten, soll es dieses Jahr um Antibiotika gehen, finde ich. Haarsträubend ist der Umgang damit, bei jedem „Chemist“ kann man sie kaufen, so weit das Geld reicht, und da oft nicht viel Geld da ist, kauft man auch mal von jeder Sorte 2 Tabletten und nimmt diese. Darunter sind dann Reserveantibiotika, oder auch schonmal Breitbandpenicilline gegen verrenkte Schultern, weil der Chemist rät, bei Knochenbeschwerden könnte da eine positive Wirkung eintreten…

Die Damen sind völlig im Bild. Alle wissen eigentlich, wie Antibiotika gegeben werden müssen, vermutlich wegen der beständig haareraufenden Ärzte, deren Ärger über ultrakurze oder monatelange Therapien ohne Sinn und Verstand sie immer wieder übersetzen müssen. Wir machen einen kleinen Ausflug zu den Bakterien und Viren, wie sie aussehen, wie sie sich unterscheiden. Ich habe zwei Prototypen aufgemalt und erzähle ein bisschen dazu. Da ich immer wieder Fragen stelle, damit die Mittagsmüdigkeit nicht allzu schwer lastet, sehe ich, dass viel Wissen da ist, aber auch noch ein paar Lücken. Ein paar können wir füllen, z.B. wie es zu Harnwegsinfekten bei Frauen kommt oder wies das eine oder andere übertragen wird.

Was macht ihr, wenn Euer Doktor Antibiotika bei einer Erkältung verordnet, will ich zum Schluss noch wissen, denn das kommt durchaus auch mal vor. Die Damen wiegen die Köpfe. Wir sind in Afrika, und da konfrontiert man nicht, man kritisiert nicht. „Only, maybe… ask in a decent way,,,,?“ meint die Mutigste. Den Chemists würde man zuweilen eine deutliche Aufklärung wünschen…

  • Am Nachmittag sind so viele Notfälle da, dass auch die Liegen im Verbandsraum besetzt sind. Im kleinen OP liegt ein Mitarbeiter, dem schlecht geworden ist, und auf der Verbandsliege müht sich der internistische Kollege um einen jungen Mann, der ein Insektizid getrunken hat. Zum Glück hat er die Flasche dabei und sogar das Antidot steht in der Gebrauchsanweisung, aber die genaue Dosierung? Alkylphosphatvergiftungen sehen wir auch in Deutschland nicht alle Tage. Wir rufen kurzerhand in der Giftnotrufzentrale im deutschen Freiburg  an und hoffen, dass dort nicht gesagt wird, man sei nicht auch noch für Afrika zuständig. Dem ist nicht so, der Kollege am anderen Ende gibt die genaue Vorgehensweise zum Mitschreiben durch. Als der Patient endlich verlegt werden kann und das Ambulanzfahrzeug bereit steht, haben wir annähernd 50 mg Atropin in ihn hineingefüllt, dennoch ist der Puls bei um die 80/min, und schliesslich kann er in passablem Zustand in der Klinik übergeben werden.

 

  • Und obwohl es eigentlich genug zu Essen gibt, und Kenia ein fruchtbares Land ist, stellen sich immer wieder unterernährte Kinder und Erwachsene vor. Gut, dass es das feeding center gibt (siehe Bild), und man sogar das Essen verschreiben kann!

 

Infos zum Project unter http://www.german-doctors.de

Danke an die Kollegen für das Foto!


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Nacht

Sonntagnacht, 3 Uhr. Plötzlich Schreie vor unserem Hoftor. Hilfe, Hilfe, ich brauche Hilfe, schreit eine Frau, offensichtlich in grosser Not. Es dauert ein bisschen, bis ich ganz wach bin. Im Halbschlaf denke ich als erstes an Gewalt. Gewalt gegen Frauen ist ein beständiges Thema. Die Schreie reissen nicht ab. Jetzt wird Sturm geklingelt an unserem Hoftor. Was soll ich tun? Die anderen wecken? Sollen wir um diese Zeit im Dunkeln das Tor öffnen? Hinausgehen? Ich bin hin und hergerissen. Von meinen eigenen Mitbewohnern ist nichts zu hören. Die Männer scheinen fest zu schlafen.

Wieder wird Sturm an unserem Hoftor geklingelt. Das Auto mit der Aufschrift German Doctors parkt schliesslich vor der Tür. Und wenn jemand medizinische Hilfe braucht? Wir haben ja kaum etwas hier… Draussen fährt ein Auto vor, eine Männerstimme sagt, es werde ein Arzt gebraucht, die Schreie der Frau werden leiser. Das Auto fährt. Ist sie eingestiegen? Liegt am Ende jemand vor dem Tor und braucht Hilfe?

Jetzt bin ich ganz wach. Stehe auf, gehe die Treppe hinunter. Im Dunkeln an der Haustür steht die andere Kollegin und weiss nicht, was tun. Von den Männern ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Wir beschliessen, nachzusehen. Es ist ruhig draussen. Durch die kleine Klappe am Metalltor ist nichts und niemand zu sehen. Wir schliessen auf, ich schaue, ob jemand vor unserer Tür oder in der Nähe  liegt, aber es ist niemand zu sehen.

Der Vorfall ist lange Gesprächsthema. Hätten wir früher etwas tun sollen? Und was? Hätten wir damit den Unfall vermeiden können? Immer wieder frage ich die Guards am Tor, ob sie etwas davon wissen. Nach drei Tagen endlich hören wir, was wirklich vorgefallen ist. Die Nachbarin von zwei Häusern weiter hatte Atemnot. Ihre Verwandte lief nach draussen und schrie um Hilfe. Nachdem keiner reagierte, luden sie die Kranke ins Auto und fuhren in Richtung Stadt zum nächsten Krankenhaus. Auf dem Weg hatten sie einen schrecklichen Unfall, der Vater der Kranken starb, die Mutter wurde auf der Intensivstation behandelt.

Jetzt hören wir am Abend immer Gesang, Freunde und Verwandte kommen, die Seele des Vaters zu verabschieden und der Familie beizustehen, Mutter und Tochter geht es zumindest gesundheitlich besser. Ich gehe zu den Nachbarn und richte mein Beileid aus. Und sage, wir wären ratlos gewesen und deshalb so langsam im Reagieren. Auch hätten wir eigentlich kein medizinisches Equipment hier zuhause. Gleichmütig und freundlich wird die Anteilnahme entgegen genommen. Es gibt keine Vorwürfe, es gibt keine Fragen, zumindest von Seiten der Betroffenen. Für uns bleiben einige Fragen offen…

http://www.german-doctors.de

(Danke an die Kollegen für das Foto!)