sabinewaldmannbrun

Farbe. Linie. Sehen.


Hinterlasse einen Kommentar

Schein und Sein – Unterwegs im ärztlichen Notdienst

Nach 10 Stunden Fahrt und Besuch zahlreicher Patienten liegt jetzt eine Anforderung der Leitstelle vor für ein Flüchtlingswohnheim. Schon hin und wieder waren wir dort im Einsatz – es ist sicherlich das am meisten heruntergekommene im ganzen Landkreis. Ein altes, verwahrlostes Gebäude, in dem überall die Farbe blättert, die Heizung im Winter ausfällt, wo keinerlei Anzeichen für eine bewußte Gestaltung oder auch nur das Aufrechterhalten eines ansehnlichen Neutralzustandes zu erkennen wären. Nur Männer leben hier, und viele von ihnen sind scheinbar die abgehängten, die erfolglosen, die nicht integrierten, die die Sprache nicht gelernt haben, die seit Jahren hier herumhängen und es geht keinen Schritt voran. Die weit hinter den Sympathiebonus, der zur Zeit den Ukrainern gewährt wird, zurückgefallen sind. Die Vergessenen in gewisser Weise. Wir sind müde und verschwitzt. Bei meinem Fahrer, eigentlich ein freundlicher und ruhiger Mann, steigt der Sarkasmusspiegel. Was die wieder wollen, brummt er. Schon oft war auch er dort, bei all den jungen, zumeist grundsätzlich gesunden Männern, die ja weder über ein Auto verfügen noch über die nötigen Kontakte, die einem nachts ein Medikament bringen könnten und deshalb hin und wieder auch bei Erkältungen oder Blähungen anrufen und einen Besuch erbitten. Auch mal nachts um 2 Uhr.

Die Leitstelle versorgt uns normalerweise mit einer sparsamen Formulierung des Problems, das es zu lösen gilt. In diesem Fall lautet die Information „Unfall vor 3 Jahren, Problem Arm“. Ungeduldige Helfer, auch verschwitze, müde, fragen sich bei dieser Formulierung zuweilen, warum ein Unfall vor 3 Jahren jetzt am Wochenende zu Unzeiten behandelt werden soll. Die Geduldigeren wissen, auch dahinter können sich unerhörte Untiefen verbergen.

Unser Patient, um die 30 Jahre alt, liegt in seinem kleinen, unpersönlichen Zimmerchen auf der abgeschabten Sitzgelegenheit. Er stammt aus einem weit entfernten Land und spricht eine Sprache, von der ich noch nie gehört habe. Er ist schon seit ein paar Jahren da, kann aber kein Deutsch oder Englisch. Immer noch nicht, könnte man jetzt einwerfen. Aber wer weiß, warum? Zwei andere junge Männer sind bei ihm, einer ist extra angereist, um zu übersetzen. Er spricht soweit Deutsch, dass man mit einfachen Fragen eine karge Anamnese hinbekommt. Vieles bleibt unbeantwortet. Unser Patient wirkt auf den ersten Blick, als könne er seine rechte Körperseite nicht bewegen. Ein Schlaganfall? Mit 30 Jahren? Kann er sich wirklich nicht bewegen? Simuliert er gar? Alles schon dagewesen. Die Untersuchungen zeigen Normalwerte, auf Schmerzreiz ist Bewegung zu sehen, mein Fahrer wird zunehmend ungeduldiger, schimpft über mangelnde Kooperation beim Blutdruckmessen. Endlich wird eine speckige alte Tasche geholt, aus der sich ein zusammengewürfelter Stapel Papiere entfaltet – Anwaltsschreiben, Rechnungen, und endlich – das hatte ich gesucht – ein Arztbrief von dem Unfall vor 3 Jahren, der, wie ich jetzt sehe, mit multiplen, schweren Verletzungen und monatelangem Klinikaufenthalt einherging. Sind die Bewegungseinschränkungen darauf zurück zu führen? In gebrochenem Deutsch wird mir gesagt, die Beschwerden kämen immer wieder einmal, dazwischen habe er laufen können. Ob sie ein Schmerzmittel haben könnten? Der Patient spricht, aber aus der marginalen Übersetzung erschließt sich nicht, was ich wissen möchte. Ich beschließe, den Patient in die Klinik einzuweisen. Wir bestellen einen Krankentransport in die Neurologie. Die Leitstelle kündigt stundenlange Wartezeiten an. Wir packen unsere Koffer und gehen.

Im Gehen bin ich hin- und hergerissen. Habe ich mich von dem Setting in dieser trostlosen Umgebung beeinflussen lassen? Von Vorurteilen? Von der Ungeduld der anderen? Will ich den Patient etwa so sparsam behandeln, wie er sowieso schon lebt, nicht aber so, wie ein deutscher Patient es zumeist vehement fordern würde? Habe ich die Situation richtig eingeschätzt? Ich rufe die Leitstelle an und fordere statt des langsamen Krankentransportes einen schnellen Rettungswagen mit Signal an.

Als ich bei der nächsten Patientin, die mit Corona im Bett liegt, verkleidet und mit Handschuhen zugange bin, höre ich von draußen mit halbem Ohr, dass die Rettungswagen-Besatzung anruft. Was sie da sollten? Das wäre doch nichts für den RTW. Sie seien „angepisst“. Alter Unfall. Und das jetzt? Heute? Ich höre, dass mein Fahrer nun doch tapfer meinen Entschluss verteidigt.

Ein paar Stunden, nachdem der Dienst geschafft ist, rufe ich in der Klinik an. Es dauert eine Weile, bis man den Patient gefunden hat, das Geburtsdatum 1.1. teilt er mit so vielen anderen, die von weit her gekommen sind – die Notaufnahme verweist auf die Stroke Unit, diese auf die Intensivstation. Dort reicht mich die Pflege an den diensthabenden Kollegen weiter. Ja, tatsächlich, unser Patient hat einen ausgewachsenen Schlaganfall, im CT unschwer zu erkennen, völlig untypisch für dieses Alter. Hätte leicht übersehen werden können, sagt der ärztliche Kollege, immerhin, bei all den schweren Vorverletzungen… Die Station freut sich über die Telefonnummer des anderen jungen Mannes, der extra zum Übersetzen angereist war. Auch hier spricht, ja kennt keiner die Muttersprache unseres Patienten…

(Die Moral von der Geschicht, obwohl sie sich vermutlich jedem sofort erschließt: VORSICHT bei vorschnellen Zuordnungen, ohne genau hingeschaut zu haben!!!!!! (gilt nicht nur in der Medizin). Und um den Spruch zu zitieren, der im ärztlichen Bereitschaftszimmer hängt: Nothing was ever achieved without passion…)


10 Kommentare

Weihnachtliches Roadmovie – unterwegs im ärztlichen Notdienst

Der Aufenthaltsraum in der Wache ist festlich geschmückt – ein prachtvoller Weihnachtsbaum glitzert, leuchtet und verbreitet Wärme. Nur ist gerade keiner da, den das erfreuen könnte, alle sind unterwegs. Und auch wir dürfen uns gleich nach dem Umziehen auf den Weg machen – ich fahre heute mit einem müden jungen Mann, der ziemlich erkältet ist. Nein, nein, kein Corona, meint er, der Schnelltest am Morgen war negativ. Hoffen wir mal auf die Verläßlichkeit der Chemie und verstecken uns für 12 Stunden hinter unseren FFP2Masken.

Die erste Patientin, zuhause liebevoll von der Tochter versorgt, leidet unter den Nebenwirkungen der Chemotherapie letzte Woche, die sie wegen einer Tumorerkrankung erhält. Die dauernden Durchfälle schwächen sie sehr. Da ist gut abzuwägen. Eigentlich ist ihr Zustand soweit stabil, sie kann essen, trinken und in kleinem Radius auf den Beinen sein. Ins Krankenhaus zu gehen, ist da keinesfalls eine gute Wahl. Wir besprechen, wie sich die Balance vielleicht zuhause halten läßt.

Der nächste Patient hat einen aggressiven Hirntumor und zunehmend Mühe zu sprechen. Die Ehefrau drückt mir den letzten Entlaßbrief aus der Klinik von vor einer Woche in die Hand, ob ich nicht etwas verschreiben könnte? Im Brief ist aufgeführt, was dem Patient an Medikamenten weiter empfohlen ist. Wurde das noch nicht verschrieben? Der gestresste Hausarzt war immerhin kurz da gewesen und hatte eine Spritze gegeben, allerdings nichts verschrieben. „Ich bringe ihn um!“ ruft die Gattin, und fängt im gleichen Moment an zu weinen. Es ist alles zu viel, es geht alles so schnell, man kann nicht mehr operieren…Wir brechen eine Lanze für den sonst doch tüchtigen Hausarzt, die Medikamente, die man schon seit einer Woche hätte nehmen können, werden verschrieben, die Telefonnummer vom SAPV aufgeschrieben. Die spezielle ambulante Palliativversorgung wäre hier genau die richtige Unterstützung: Tag und Nacht erreichbar, mit einem Team incl. Arzt, die den Patient gut kennen, und gerade, wenn nicht mehr alles gut werden kann, die Mittel haben, zu erleichtern und die Versorgung zuhause zu ermöglichen.

Die nächste Patientin liegt im Sterben, ist nicht mehr ansprechbar. Zwei Töchter sind zugegen und ratlos. Es gibt keine Vollmachten, keine Patientenverfügung. Bei der Untersuchung fällt auf, dass die Patientin viele Schürfungen, teilweise große Hämatome hat, unversorgte Wunden an beiden Armen und Beinen, die man hätte verschließen können, als sie frisch waren, und da, wo sie aufliegt, die Haut bereits schwarz ist oder sich ablöst. Der Pflegedienst käme einmal am Tag. Ja, sie sei oft gestürzt. Ob ich sie nicht einweisen könnte? Rein rechtlich kann nicht ich entscheiden, ob die Patientin palliativ oder kurativ behandelt werden soll. Wir könnten es mit der Palliativstation versuchen in der nächsten Klinik, aber die Entscheidung, wie es weiter gehen soll, kann ich der Familie nicht abnehmen. Wir bestellen nach einer Grundversorgung einen Krankentransport. Mich bekümmert, dass die Kranke so dermaßen schlecht versorgt ist, da scheint diese Lösung zumindest pflegetechnisch die beste zu sein…

Die Leitstelle ruft an: die Polizei erwartet uns bei einer verstorbenen jüngeren Frau um die 40. Die Mutter steht vor der Tür, sie hatte immer wieder mit der allein lebenden Tochter telefoniert, während diese mit ihrer Covid19-Infektion zuhause lag, gestern habe sie recht schwach geklungen, aber keinen Arzt gewollt, heute dann habe sie sie nicht erreichen können…Die Verstorbene, stark übergewichtig, liegt im Bett, ein paar Trauben, ein Stück Stollen neben sich, ein großes Plüschtier an der Seite. Die Leichenstarre ist bereits voll ausgeprägt, und da die Leichenschau unbekleidet erfolgen muß, schneide ich, in Schutzkleidung auf dem Bett herumkletternd, den Schlafanzug mit einem scharfen Messer aus der Küche auf. Einer der Polizisten hat sich ebenfalls in Schutzkleidung gehüllt und hilft mir beim Drehen, obwohl er das nicht müßte. Die Mutter steht an der Balkontür, hin und her gerissen zwischen Kummer und Ärger, schüttelt den Kopf, weil es so unordentlich ist in der kleinen engen Wohnung und weint, weil nichts mehr zu heilen ist.

Auch der nächste Patient ist tot, trotz seines jungen Alters Ende 30 im Pflegeheim wegen seiner psychiatrischen Erkrankung untergebracht. Das Pflegepersonal ist feiertäglich unterbesetzt. Der junge Mann, der mir mit den Akten helfen soll, war gerade 2 Wochen im Urlaub, die Nachtwache hat weder den Todeszeitpunkt aufgeschrieben noch ist sie erreichbar (verständlich – nach dem Nachtdienst braucht man unbedingt eine Mütze voll Schlaf), in der Pflegedokumentation ist seit 4 Tagen kein Eintrag mehr gemacht worden. Irgendjemand hat ein Morphinpflaster geklebt, ach ja, palliativ, dann wird nichts mehr gemacht (so ist das ja eigentlich nicht gedacht…). Der Verstorbene hat immer wieder versucht, sich das Leben zu nehmen, höre ich, und sehe vielerlei verschorfte alte Wunden und Prellmarken, der Mann ist bis auf die Knochen abgemagert. Das letzte dokumentierte Gewicht war 37kg. Da kann ich keinen „natürlichen Tod“ bescheinigen, also muß die Kripo antreten…

Es geht weiter durch Nieselregen zum nächsten Patient, der Rückenschmerzen hat, ach, es wird einfach nicht besser, was solle er noch tun, seit 3 Tagen liegt er im Bett (ganz schlecht, um einen Rücken wieder fit zu bekommen), auch Reizstrom, Krankengymnastik, Medikamente, MRT, dies und das hätten garnicht geholfen…Untersuchungstechnisch geht es ihm nicht schlecht, alles ist beweglich, der Patient hat uns auch relativ dynamisch die Tür geöffnet. Ich bewundere die Versorgung, die er bisher schon hatte, hier und da lässt sich noch ein bisschen feinjustieren, und siehe da, der Patient lässt sich auf die Hoffnungsschiene holen, vielleicht tut ihm auch einfach der nette Besuch gerade gut, auf jeden Fall können wir ihn, getröstet, dass die ausführliche Behandlung bald anschlagen wird und ein kleiner Spaziergang hier und da, kombiniert mit der wohligen Wärme eines ABC-Pflasters, alles zum Guten führt, wieder verlassen.

Mein Fahrer schnieft, die Nase läuft. Er fühlt sich nicht. Jetzt wäre doch eine Pause dran, meint er, aber die Leitstelle pocht auf einen weiteren Einsatz, die Polizei wartet auch dort bereits auf uns. Ein Familienvater Anfang 40 mit einer Autoimmunerkrankung, vor 4 Tagen geboostert, ist plötzlich verstorben. Am Morgen hat ihn die 5-jährige Tochter leblos auf dem Sofa gefunden. Die Familie ist von der Katastrophe geschüttelt, hat zum Glück Unterstützung aus dem Verwandten- und Freundeskreis. Auch hier müssen wir die Kripo dazu bestellen – wenn die Möglichkeit besteht, dass die Todesursache in einer medizinischen Anwendung liegt, kann kein „natürlicher Tod“ bescheinigt werden.

Die Leitstelle schüttelt einen weiteren, sehr bedürftigen Patient aus dem Ärmel. Ein verstopfter Katheter, nur schlappe 15km entfernt, wartet seit Stunden. Mein Fahrer protestiert. Er braucht jetzt seine Pause. Ich verhandle mit der Leitstelle: hat der Patient Schmerzen? Ist einer von unseren drei anderen Kollegen gerade dort in der Nähe unterwegs? Falls das alles nicht geht, fahren wir hin. Man melde sich noch mal, wenn nötig, wird uns versprochen. Da sich keiner mehr meldet, schaffen wir es bis zur Wache. Ein Päuschen mit einem verspäteten Mittagessen (es ist inzwischen 15.45) ist immer was feines.

Danach geht es weiter. Erwachsene Kinder, die ihre Eltern zum Fest besuchen, und Mißstände feststellen. Helferinnen aus dem Ausland, die kein Wort verstehen, nicht mit dem Patient geschweige denn uns kommunizieren können. Telefonate mit Angehörigen in der Ferne, um Informationen zu erhalten. Und schließlich eine Anforderung zum Besuch bei der Patientin vom Morgen, die wir eigentlich jetzt auf der Palliativstation der nahen Klinik vermutet hatten. Zwar war das mit der ärztlichen Kollegin in der Klinik so besprochen, aber der Krankentransport hatte sich geweigert, sie mitzunehmen. Da die Rechtslage ungeklärt sei, würde man sie reanimieren müssen, im Ernstfall. Der Notarzt war nachgefordert worden. Dieser hatte sich fürs Palliativkonzept entschieden, auf Anraten der Angehörigen. Diese sind verärgert, dass ich aufgrund der ausgedehnten Verletzungen und Stürze in jüngster Vorgeschichte auch hier die Kripo anfordern muß, weil es grob fahrlässig wäre, einen so vernachlässigten und verletzten Verstorbenen unter „natürlichem Tod“ zu verbuchen. Auch wenn man es gerne täte, kann man nicht immer entscheiden, was die Angehörigen sich wünschen. Mein Fahrer, gerade erst mit dem Abi fertig, schlägt sich auf die Seite der Angehörigen (was ich zwar verstehen kann, aber auch ziemlich ärgerlich finde. Empathie ist immer richtig, aber nicht ein Kritisieren meiner Entscheidungen in Anwesenheit von Patienten oder Angehörigen). Nun ja.

Was hat das jetzt alles mit Weihnachten zu tun, außer dass es an dem Tag stattfindet, an dem man Weihnachten feiert? Ich lasse mal Fulbert Steffensky kommentieren: „Der Mensch zählt in dem, was er tut….Er kann mit Gott das Leben wärmen, das Gebeugte aufrichten, das Recht lieben und der Güte dienen…“ Das kann man versuchen, auch wenn es nicht immer gelingt, und sich damit trösten, dass Weihnachten ja eigentlich heißt: Gott ist Mensch geworden und hat unser Leben geteilt mit auch all seinen Schräglagen und Mißständen. Das ist sowieso nachhaltiger, als sich zu fragen, ob man jetzt Zeit für einen Braten im Angesicht eines Weihnachtsbaums hatte. Was mich bekümmert, auch noch Tage danach, ist allerdings die Nachlässigkeit mancher Umgangsformen, das Vergammelnlassen von Menschen, das Sichnichtzuständigfühlen, das sich hier und da stachelig in seinen Wirkungen zeigt.


Ein Kommentar

Roadmovie 7 – Unterwegs im ärztlichen Notdienst…

Wir fahren durch schwäbisches Dorf- und Feldland, die Sonne knallt von einem wunderblauen Sommerhimmel. 34,5 Grad. Mein heutiger Fahrer ist ein Weltbürger mit großer Gelassenheit und Ruhe. Die Eltern aus zwei verschiedenen Ländern stammend, haben den Sohn in einem dritten Land zur Welt gebracht und sind dann in ein viertes geflüchtet. Hier hat der junge Mann sich mehrere Berufe erarbeitet, die ihm sowohl die Möglichkeit erschließen, beruflich zu reisen als auch einen weiteren Beruf zu haben, in dem man immer eine Anstellung findet.

Die Patientin, die wir gerade aufgesucht haben, plant ihren Untergang. Eine sehr wohlhabende Dame, mit weitläufiger Villa, aber jetzt völlig verwahrlost, da sie es zuweilen weder rechtzeitig zur Toilette schafft, noch die im Stürzen zugezogenen Wunden zu verbinden. Nichtsdestotrotz ist sie wach und reflektiert und hat ihre eigenen Ansichten und scheinbar festgemauerten Vorstellungen. In der vorherigen Woche hat sie sich bereits einmal selbst aus der Klinik entlassen, bevor man sie angemessen hätte behandeln können und heute den Rettungsdienst unverrichteter Dinge wieder weggeschickt. Dass sie ihren Tod riskiert, hatte die Sanitäterin ihr nachdrücklich gesagt, und dass sie dies bitte unterschreiben solle, dass sie es auch verstanden hat. Daß man den Rettungsdienst nicht belangen könne, wenn „etwas“ passiert…

Ich setzte mich auf ein sauberes Sofaeckchen. So viel Zeit muß sein. Versuche zu verstehen. Wir sprechen ein Weilchen miteinander. Ob sie denn lebensmüde sei, frage ich nach einer Weile? Ein gewisser Überdruss, ja. Ihr Selbstmord stehe irgendwann dann an. Aber nicht jetzt am Wochenende. Sie wisse doch, sage ich, dass ich sie in diesem Fall eigentlich auch gegen ihren Willen einweisen könnte? Dann werde sie kein Wort mehr sagen und ihren Rechtsanwalt informieren, läßt mich die Lady wissen. Außerdem will sie am Abend in Ruhe das Fußballspiel ansehen. Nein, Coronatest will sie keinen. Und nein, die Hand frisch verbinden darf ich auch nicht. Ich rufe den Kollegen in der Psychiatrieambulanz an. Eigentlich möchte ich mich mit ihm beraten, aber er ist gestresst und sehr kurz angebunden. Die Patientin soll zuerst in die Innere.

Die Patientin ist nicht willens, sich auf eine weitere Runde Klinikambulanz einzulassen. Sie geht auf keinen Fall. Nach einer Stunde mit zahllosen ausgeworfenen Ködern, die in Richtung Leben zielen, beschließe ich schweren Herzens, ihr ihren Willen zu lassen. Auch mir muß sie das unterschreiben. Da hast du dir jetzt aber viel Zeit genommen, sagt mein Fahrer staunend. Die Nachbarn, die draußen schon warten, sind weniger erfreut. Was, immer noch nicht? Es muß doch was geschehen. So geht das doch nicht weiter…

Vielleicht wird es ja gut gehen. Vielleicht auch nicht.

Nachdem wir eine Familie, vier Personen mit Covid 19, abgestrichen und untersucht haben, geht es weiter zu einem Patient, der sich schlecht fühlt. Und so sieht er auch aus, ein bißchen wie der Totenkopfring an seinem Finger, völlig abgemagert und grau, ja, die ganze Wohnung ist grau und dunkel. Offensichtlich ein Heavy Metal Fan. Zwar ergeben die Untersuchungen, die uns möglich sind, keine wesentlichen Katastrophen. Ob sich die 38 Jahre mit täglich 40 Zigaretten jetzt rächen? Er ist einverstanden, dass wir ihn einweisen.

Der nächste Patient ist guter Dinge, wenn auch genervt. Er wiegt 130kg und hört seit 2 Wochen Stimmen, die ihn abwerten und ihm sagen, er soll sich umbringen. Die Familie ist präsent, die Sonne scheint ins Zimmer, die beiden Töchter sitzen auf dem extrabreiten Toilettenstuhl wie auf einem Gartenbänkchen, um in seiner Nähe zu sein. Der Psychiater, den ich nun zum zweiten Mal heute aus seinem Trubel heraushole, verlangt zuerst internistische Abklärung, aber dann, na dann könne der Patient kommen. Die Ambulanzschwester in der Inneren, wo ich den Patient daraufhin anmelde, ist ebenfalls gestresst. Der Patient will sich also umbringen, sagt sie, dann solle er doch in die Psychiatrie. Das stimmt so nicht, der Patient möchte nur nicht dauernd von Stimmen erzählt bekommen, er sei eine Null und solle sich aufhängen. Das ist doch dasselbe, sagt sie. Ich überlasse den Kollegen, untereinander auszuhandeln, wer den Patient zuerst sieht. Wir schicken ihn in die Innere.

Der Patient allerdings ist in Sorge, wie es bei seinem Gewicht mit dem Transport gehen wird. Mein Fahrer beruhigt den Mann. Erst kürzlich habe man mit Kran einen eben so schweren Patient aus dem Dachfenster gehievt, alles sei gut gegangen. Ich stelle mir vor, unter den Augen der wachsamen Nachbarschaft im Schlafanzug mit Kran aus dem Dachfenster geholt zu werden und dann mit flatternder Schlafanzughose zum Rettungswagen hinunter zu schweben. Dem Patient allerdings gefällt die Aussicht auf kompetente Transporteure. Gut so. Ich fände das nicht so beruhigend, aber nun…

Es sind erstaunlich wenig Patienten mit Covid 19 heute. Wunderbar. Allerdings, sagt mein Fahrer, letzte Woche sei sein Cousin daran gestorben. 30 Jahre alt. Keine Vorerkrankungen.

Wir fahren durch die Altstadt zur nächsten Patientin, gerade ist das Fußballspiel zuende. Public Viewing ohne Abstand, feiernde Fans ohne Maske. Sollen wir wetten, wann die Inzidenzen wieder steigen? Eigentlich sind wir uns einig. Ende Juli spätestens? Na, mal sehn…


14 Kommentare

Nachtaktivitäten – Roadmovie 5

Unterwegs im ärztlichen Notdienst. Der erste Patient sorgt bereits für Diskussionen. Mein Fahrer, jung und sehr vorsichtig, was den Infektionsschutz angeht, hält die Hausbesuchsanforderung in der Hand. „Wollen sie da nicht anrufen? Das lässt sich ja sicher auch telefonisch klären.“ Der Patient, noch jünger als der Fahrer, coronapositiv, hat seit 3 Tagen hohes Fieber. Bei seinem Geburtsdatum vermutet der eine oder andere einen Männerschnupfen. Einen potentiellen Jammerlappen. Warum sich der Infektionsgefahr aussetzen? Aber: ich kann eine Lunge nicht per Telefon abhören. Das Argument überzeugt. „Ich geh aber nicht mit rein,“ sagt mein Fahrer. Natürlich nicht. Selbst ich gehe, obwohl vollverkleidet, nicht hinein, wenn der Patient zur Tür kommen kann. Und die Versicherungskarte kann man auch einen Treppenabsatz tiefer einlesen. Wir fahren hin. Der Patient hat Atemnot. Die Lunge klingt garnicht gut. Die Sauerstoffsättigung ist im unteren Normbereich. Die Einweisung in die Klinik ist ihm ganz recht, erstmal nur für weitere Diagnostik. Hin und wieder sieht die Lunge in der Bildgebung schlechter aus, als man es vermutet hätte. Lebt noch jemand im Haushalt? Ja, die Freundin, die ist aber bei der Arbeit. Wie kann das sein, wenn er positiv getestet und erkrankt ist? Na, sie habe keine Symptome. Und arbeitet im Einzelhandel. Testergebnis gab es noch keines, man warte darauf. Wir stellen uns jetzt nicht vor, wen sie alles angesteckt haben könnte.

Der nächste Patient lebt im Seniorenheim, er atme schlecht. Im selben Heim war ich bereits vor einer Woche, da waren es 10 Patienten mit verdächtiger Symptomatik, zwei weitere bereits positiv. Heute sind die Ergebnisse des Reihenabstrichs da: es sind über 20, die ein positives Testergebnis haben. Der anzuschauende Patient quält sich mit der Atmung, ist garnicht mehr ansprechbar, trotz Sauerstoffgabe hat er eine Sättigung von nur 82%. Sehr ungesund auf Dauer. Warum wir jetzt erst angefordert worden seien? Sie habe am Morgen schon angerufen, sagt die Pflegerin. Da der Sohn keine weiteren Maßnahmen mehr wolle, habe der Kollege per Telefon Sauerstoff und Fiebersenkung angeordnet. Ich rufe den Sohn an. Doch, vor einer Woche war der Vater noch mobil, man konnte sich mit ihm unterhalten. Und nein, eigentlich wolle er nicht, dass der Vater so erstickt. Sich so quälen muß. Und wenn er beatmet wird, ist er sediert, er wird es nicht spüren. Wird viel weniger spüren als im Moment, wo selbst bei 30 Atemzügen pro Minute und Sauerstoff nicht genug Luft zu bekommen ist. Ich soll ihn einweisen. Gut so. Der Kollege in der Klinik hat noch genügend Kapazitäten. Es will wirklich gut abgewogen und besprochen sein, was da in der Patientenverfügung steht. Das kategorische „es soll nichts mehr gemacht werden“ ist zuweilen weder barmherzig noch angebracht. Oft ist es nötig, den Gesichtsausdruck des Patienten zu sehen, um eine angemessene Entscheidung zu treffen.

Die nächste Patientin ist bereits tot. In Heim Nr. 2 sind inzwischen alle (!) Patienten und 80% des Personals positiv getestet. Die Schwester erzählt mir von einer 85jährigen, die jetzt, nach Ende der Beatmung in der Klinik, auf dem Weg der Besserung und wieder aktiv sei. Na, mal eine gute Nachricht!

Der nächste Patient in Heim Nr. 3 befindet sich in infektionsfreier Umgebung. Hier hat es besser geklappt mit dem Infektionsschutz, es ist kein ausgewiesener Demenzbereich, in dem er sein Zimmer hat, die Bewohner verstehen noch, wo man vorsichtig sein muss. Aber auch er hat Mühe mit dem Atmen. Seit 3 Wochen wird das Herz schwächer, zwar hat der Hausarzt die Medikamente umgestellt, aber das reicht offensichtlich nicht, der Patient hat in dem Zeitraum 14 kg zugenommen an Wassereinlagerungen. Die Ödeme gehen bis unter die Achselhöhlen. War denn mal der Hausarzt vor Ort und hat ihn angeschaut? Die Pflegerin erzählt, scheints habe er noch nicht zurück gerufen. Vor einer Woche schon hätten sie einen Hausbesuch angefordert. Ich stelle mir den Kollegen vor, der zwischen Infektionsschutzmaßnahmen, verunsicherten Patienten und erkrankten Arzthelferinnen rotiert und nicht mehr weiß, wie er das alles schaffen soll. Wir weisen den Patient ein. Und das ist ihm ganz recht. Der Patient ist ein geistig wacher, reflektierter Mann, wenn ihm auch das Wasser bis zum Hals steht.

Wer sich bis hierher durch diesen kleinen Bericht gekämpft hat, verdient ein Lob. Wer mag das alles noch hören? Überhaupt, das C-Wort, es hängt einem aus den Ohren heraus. Und trotzdem denke ich, es ist gut, davon zu erzählen, wie es an den Stellen aussieht, wo die Folgen von Corona offensichtlicher sind als in der Fußgängerzone oder im Reisebüro. Was wird nur aus den Patienten, die keinen Fürsprecher haben, der sich auf die Zehenspitzen stellt und notfalls dreimal darum bittet, dass der Kranke angesehen wird? Und auch nicht erst in einer Woche, sondern heute? For crying out loud…Doch, manchmal würde ich nach einem solchen Dienst gerne laut schreien.


Hinterlasse einen Kommentar

Roadmovie 4 – unterwegs, nein, nicht im Coronamobil!

Die Arbeit, die ich seit Jahren oft und gerne mache, findet ebenfalls immer wieder mal „on the road“ statt: zu den Zeiten, an denen die niedergelassenen Ärzte nicht erreichbar sind, also nachts und am Wochenende, fahren wir auf Anforderung (Tel. bundesweit 116 117) zu Patienten, die zu krank sind, sich selbst auf den Weg in die Klinik zu machen. Man könnte denken, es wird weniger mit der Corona-Thematik, aber…

Der erste Patient ist uns als onkologisch mit starker Unruhe angekündigt. Im Pflegeheim angekommen, frage ich wie gewohnt, ob jemand im Zimmer (die Familie ist anwesend) Husten, Fieber oder sonstige Erkältungssymptome hat? Nein, nein, alles gut, sagt die Pflege. Sonst eine „Keimbesiedlung“ (auch bei den multiresistenten Keimen sollte man sich verkleiden, denn der nächste Patient, den wir besuchen, möchte auch davon gerne verschont bleiben…)? Nichts, wirklich, alles sei gut. Wir marschieren ins Zimmer, der Patient teilt uns als zweites mit, sich erkältet zu fühlen und hustet ziemlich feucht. Hat überhaupt jemand Fieber gemessen? Bisher nicht. Wir messen: 39,5. Na denn. Alle wieder raus, desinfizieren, verkleiden, wieder rein. Da im Moment eigentlich weder Grippe- noch Erkältungszeit ist, ist das naheliegendste, na,….? Die Familie ist nicht begeistert, dem Patient geht es so schlecht, dass wir ihn einweisen müssen.

Die nächste Patientin in der Sammelunterkunft hat seit 5 Tagen Fieber. Der Ehemann jongliert die zwei kleinen Kinder und hat gut zu tun, das Paracetamol aus den spielfreudigen Händchen der Zweijährigen zu befreien und den Dreijährigen zu beruhigen, weil man sonst sein eigenes Wort nicht versteht neben dem Gebrüll, schon garnicht die schwache Stimme der Patientin. 38,9, Kopfweh, Rückenschmerzen. Wann sie aus Afrika gekommen seien? Vor einem Jahr. Hat sie in den letzten 5 Tagen schonmal einen Arzt gesehen? Nein. Beide schütteln die Köpfe. Da die Patientin sowohl Malaria als auch, na, was wohl? haben könnte, nehme ich nach der Untersuchung noch einen Abstrich und wir füllen den ganzen Papierkram aus. Ja, das hätte der Mann letzte Woche auch gemacht, wird mir danach erzählt. Ach. Aber sie meinten doch, es habe noch kein Arzt….? Na, der sei ja auch nicht für die Krankheiten zuständig gewesen, sondern für die Verwaltung! (Insgeheim bin ich wirklich froh, wieder im normalen ärztlichen Dienst unterwegs zu sein, wo wir von den Patienten angefordert werden, damit etwas besser werden kann, und nicht nur, um Abstriche zu machen und dann wieder zu gehen). Jetzt muss eigentlich noch die Malaria ausgeschlossen werden. Und wie das immer so ist mit den Sammelunterkünften – keiner hat ein Auto, keiner Geld, ein Taxi bis nach Stuttgart Zentrum (nicht jedes Krankenhaus macht Malariatests) zu bezahlen und auch keinen, der einen mal kurz hinfahren könnte. Also braucht es einen Transport. Die Patientin freut sich über die ausführliche Diagnostik. Doch, das sei gut, jetzt, nach fünf Tagen mit hohem Fieber.

Die nächste Patientin ist mit hohem Blutdruck angekündigt. Sonst nichts? Mein Fahrer, ein sportlicher junger Mann, sagt, er könne es langsam nicht mehr hören, die Sache mit Corona ginge ihm allmählich total auf den Sack, er werde jetzt frei nehmen, bis die Geschichte vorüber sei. Ich hingegen beschließe zum wievielten Mal, egal, was uns wie angekündigt wird, bei jedem, zu dem wir gebeten werden, erstmal Fieber zu messen und draußen zu bleiben mitsamt Fahrer (solange dieser nicht das Handtuch geworfen hat) und Equipment…


Ein Kommentar

Medizin und Armut?

Julie stellt sich mit grossflächigen Hautablösungen an beiden Fussrücken vor. Unbedingt gefragt werden muss, was und wie die Patienten arbeiten, um zu verstehen, welchen Umständen sie ausgesetzt sind. Julie arbeitet den ganzen Tag barfuss in Gummistiefeln. Und schwitzt darin. Sind es ihre eigenen? Stellt sie der Arbeitgeber zur Verfügung? Sind irgendwelche Chemikalien hinein geraten? So richtig lässt sich die Ursache nicht herausschälen. Ach ja, vor zwei Wochen hatte sie einen Unfall mit dem Motorradtaxi, sie wurden von der Strasse abgedrängt und fielen samt Motorrad in einen Fluss. Passanten hätten ihnen wieder heraus geholfen (ich denke an die Gynkollegin, die kürzlich mit dem Motorradtaxi und ohne Helm in die Stadt brauste). Ob es an Abwässern lag? Wer weiss? Ich trage die Hautfetzen nach einem Fussbad vorsichtig ab, Julie erhält einen Verband und die Bitte, alles gut trocken zu halten, und in den Stiefeln niemals barfuss zu arbeiten, sondern frisch gewaschene Socken zu tragen. Nach zwei Wochen ist alles wieder gut und geheilt.

Robert kann kaum atmen. Die Hose passt nicht mehr, weil die Beine so dick geschwollen sind. Eigentlich möchte er von mir wissen, was man gegen die Druckgeschwüre an den beiden grossen Zehen tun kann, auch die Schuhe passen nicht mehr und drücken ganz schrecklich. Und der Hoden sei geschwollen. Wir bitten ihn, die Hose abzulegen. Zum Vorschein kommen grosse Wunden an den Knien, auf einer Seite ein Wundkrater von 5 cm Durchmesser. Was denn geschehen sei? Robert sagt uns, er könne nur noch im Knien schlafen, anders könne er nicht atmen. Nach Versorgung der Wunden und Ausschluss all dessen, was als üble Ursachen infrage kommen könnte, schicke ich den Patient zum internistischen Kollegen, der die vermutete schwere Herzinsuffizienz weiter behandelt.

Peter hat sich an Weihnachten bei einem Besuch up country bei der Familie versehentlich einen Dorn in den rechten Mittelfinger gestochen. Erst nach fünf Tagen hat er ein Health Center erreicht, wo der Fremdkörper heraus gezogen werden konnte. Der Finger sind grauenvoll aus, selbst wenn man einiges gewohnt ist, dauert einen dieser Zustand bei einem so jungen Patient.  Die Strecksehne ist lose und zerfetzt, der Knochen liegt bloß, aus dem Gelenk tropft der Eiter. Auch ein desinfizierendes Bad und ein vorsichtiges Debridement ändern daran nichts. Der Finger kann nur noch amputiert werden.

Eine Lady mittleren Alters mit rosa Gepardenmusterhütchen, grauem Sweater und gemustertem Rock stellt sich vor. Seit 3 Jahren ist sie von Bauchweh, Knieschmerz und einem Klingeln im Kopf geplagt. Wenn Patienten eine so lange Krankengeschichte berichten, muss zuerst gefragt werden, welche Kollegen schon was untersucht und therapiert haben – das kann zuweilen viel Zeit und Geld sparen. Und sieh da: es gab bereits eine Blut- und Urinuntersuchung, ein CT, 2 Gastroskopien im Abstand von einem Jahr und vor eine Woche hat ein professoraler Kollege unseres Uniklinikums ihr ein Stäpelchen Medikamente verordnet, die sie seitdem tapfer schluckt: 5 verschiedene Pillen für Magen, Psyche und Rücken. Dem kann ich nichts hinzufügen, sage ich. Unsere solide, aber basisorientierte Ausstattung hat da nichts zusätzlich Neues im Angebot. Die Lady ist nicht zufrieden, man sieht es ihr an. Wir versuchen, den Wert ihrer bisherigen Versorgung herauszustellen, was nur ansatzweise gelingt…

Eine junge Mutter mit Baby kommt nach einem Matatu-Unfall. Der Minibus war umgekippt und Lasten und Mitfahrer auf die Patientin gestürzt, der es zwar gelang, das Baby zu schützen, die aber dabei allerlei Prellungen abbekommen hatte. Zum Glück erzählen nur hier und da ein paar blaue Flecken von anderer Leute Taschen, Knien oder Ellbogen. Was für ein Glück. Nicht immer gehen die Matatuunfälle so gut aus.

Am Ende des Tages, wenn noch ein bisschen Zeit ist,  machen wir im Dressing-Room wieder Röntgenbilderquiz. Die Schwestern dürfen – mit viel Spass – anhand von einem ausgewählten Röntgenbild – raten, wie alt der Patient ist, welche Knochen man sieht, wo die Fraktur sitzt und welchen Gips man dafür braucht. Alle machen grosse Fortschritte oder polieren früher Gelerntes wieder auf. Es wird viel gelacht…

Mehr über unsere Arbeit in diesem Projekt unter http://www.german-doctors.de

 

 


6 Kommentare

Das bunte Vielerlei

Inzwischen sind scheinbar all unsere Patienten und überhaupt ganz Nairobi zurück von ihren Weihnachtsausflügen, und manche haben auch von up country ihre alten Eltern mitgebracht, um diesen nach Jahren endlich einmal wieder eine gründliche Untersuchung bei einem Arzt zu ermöglichen. So bricht unsere Ambulanz mitten im Mathare Valley Slum aktuell schier aus den Nähten,  und wir sind durchschnittlich 10 Stunden am Tag dort zugange.

Meine erste Patientin am Morgen ist eine junge Mutter, die weinend im Dressing Room sitzt, den Säugling auf dem Schoß. Sie hat starke Brustschmerzen auf einer Seite und hat einen Knoten getastet. Da Brustabszesse hier häufig sind, nehme ich sie mit in den Ultraschallraum, aber zum Glück verlangt der Lokalbefund noch kein  chirurgisches Einschreiten – vermutlich handelt es sich bisher nur um einen Milchstau. Ich bitte die Gynkollegin, sich ihrer anzunehmen.

Der nächste Patient, ein junger Mann, atmet schwer und schwankt ein wenig, als er in unser Sprechzimmer tritt. Heftiger Durchfall seit 2 Wochen, Husten mit Auswurf. Am Eingang wurde bereits die Temperatur gemessen, wie bei allen Patienten: 36,2. Die Stirn fühlt sich heiß an, wir messen nochmal: 39,6. Das passt eher. Die linke Lunge knarrt und rasselt, die Sättigung ist bei  86%. Auch, wenn unsere Patienten immens hart im Nehmen sind und sich auch nicht beklagen, wenn man sie in schlechtem Zustand stundenlang auf einer Wartebank im Biergartenformat platziert, beschliesse ich, diesem Patient im Emergencyroom ein Plätzchen zum Liegen zukommen zu lassen, eine Infusion, Medikamente zum Fiebersenken und eine Laboranforderung, bei der der Laborant zu ihm kommen muss. Bei dem Andrang heute kann es sonst sein, dass wir erst in 3 Stunden die Ergebnisse haben.

Ein alter, schlanker Herr, der von seinen beiden besorgten Söhnen von up country mitgebracht wurde, lässt sich als nächster in unserem Räumchen nieder. Das auf der Karte notierte Geburtsdatum weist ihn als 97jährig aus. Wir fragen nach. Eigentlich sei er doch 70, meint der eine Sohn? Die drei Männer diskutieren eine Weile. Man einigt sich auf 80 Jahre. Nun aber zu den Beschwerden.

Es klopft. Die Gynkollegin möchte, dass meine Übersetzerin die Schwestern im Dressingroom an der Milchpumpe anleitet. Die junge Mutter hat auch nach ihrer Ansicht einen Milchstau und soll abpumpen. Da die beiden Söhne mit Vater kein Englisch sprechen, beschliesse ich, bis meine Übersetzerin wieder da ist, nach dem schwer atmenden jungen Mann zu sehen, der eine Infusion erhalten sollte. Die Liege, die ich ihm zugewiesen habe, ist leer. Wo ist der Patient, frage ich, die Schwestern weisen nach draussen: dort sitzt er wieder auf der Holzbank.  Wer jung ist und noch irgendwie laufen kann, muss gesund sein. Also nochmal. Liege, Infusion, der Laborant verspricht, sofort zu kommen. Ich bitte den internistischen Kollegen, noch einen Blick auf den Patient zu werfen.

Inzwischen ist meine Übersetzerin zurück und es kann mit dem 80jährigen weiter gehen. Die Beschwerden? Die Söhne packen ein Stäpelchen Papiere auf den Tisch. Ah, Vorbefunde! Ein seltenes Glück!  Eine vom Alter gezeichneten Wirbelsäule wurde gesehen, Schmerzmittel, Muskelrelaxantien und die Empfehlung, Physiotherapie zu machen, wurden vor einem Monat verordnet. Hat geholfen, was bisher unternommen wurde, möchte ich wissen?

Es klopft. Der internistische Kollege wedelt mit der Kurve des jungen Mannes und bittet mich nach draussen. Die Laborbefunde ausser der Stuhlprobe sind alle da, er vermutet eine Lungenentzündung und hat 4 verschiedene Medikamente verordnet, eines davon als Infusion. Auch der Patient liegt noch auf seiner Liege und hat inzwischen einen iv-Zugang. Ich bitte, mich zu rufen, wenn alle Befunde da sind und die Infusion durch ist.

Weiter mit dem alten Herrn. Die Medikamente hätten nicht geholfen, Physio habe man nicht ausprobiert. Gibt es die überhaupt up country, frage ich? Aber ja, wird mir bestätigt, da sei ein Krankenhaus in der Nähe. Ich setze an, in groben Zügen unsere Erkenntnisse aufzuschreiben, aber es gibt noch mehr Beschwerden. Der linke Hoden schmerze.

Es klopft. Die Kinderärztin schickt einen Dreijährigen und seine Schwester mit Abszessen, die ich spalten soll. Zu viel Vaseline auf der Haut. Die Kinder müssen noch ein bisschen warten.

Der Hoden erweist sich als völlig normal, auch bei Druck keine Beschwerden, auch keine Leistenhernie oder Hydrozele. Weitere Beschwerden? Das Telefon des alten Herrn klingelt. Er muss jetzt erstmal telefonieren. Lächelt freundlich in die Runde und verlässt das Zimmer. Scheinbar nichts für die Söhne.

Ich nutze die Gelegenheit, nach dem jungen Mann zu schauen. Er ist weg. Aber wo? Im Trubel des Emergencyrooms weiss keiner so genau, wohin er verschwunden ist. Hat er denn seine Medikamente abgeholt? Die zwischen 4 anderen Patienten rotierende Schwester meint, eine Schachtel gesehen zu haben. Hoffen wir mal, dass alles da ist, der Kollege hatte noch auf die Karte geschrieben, am Montag sei Kontrolle nötig, hoffentlich kann der Patient das lesen. Zurück in mein Sprechzimmer.

Der alte Herr hat fertig telefoniert. Weitere Beschwerden werden genannt. Die Augen seien nicht mehr so gut. Die grauen Linsen sieht man auch schon von Weitem. Ich bitte meine Übersetzerin, ihm von den augenärztlichen Programmen zu erzählen, wo die Linse entfernt werden kann.

Es klopft. Die Dressingroomschwester bittet mich, zu einer Abszessspülung zu kommen. Den Patient hatte ich vor zwei Tagen operiert, ein 6cm grosser, alter Abszess am Rücken, gestern sah es schon sehr gut aus. Er muss auch noch ein bisschen warten.

Die Söhne haben inzwischen verstanden, was am Auge möglich wäre, aber es gibt noch weitere Beschwerden. Heartburn! sprich: Sodbrennen. Aber auch nicht immer. Im Moment zum Beispiel nicht. Das Telefon des alten Herrn klingelt erneut. Wieder verlässt er freundlich lächelnd den Raum. Draussend ein Chor von drei schreienden Kindern, eines klingt, als würde die Welt untergehen, vermutlich eine Blutabnahme.

Ich versuche, kurz zusammen zu fassen, dass der alte Herr eigentlich in recht ordentlichem Gesundheitszustand ist, wenn man von den Nebenwirkungen des Alters absieht und dass sie mit Schmerzmitteln vorsichtig sein sollen, nicht, dass es noch mehr heartburn gibt. Noch Fragen? Die Söhne sind soweit zufrieden. Der alte Herr sowieso.

Es klopft.

Es wird uns nicht langweilig!

Die Daily Nation berichtet aktuell täglich über die riesigen Heuschreckenschwärme, die von Norden her über die Nachbarländer und nun auch Kenia ziehen und kahles Land hinterlassen. Durch die Wetteranomalitäten (es regnet auch jetzt, in der Trockenzeit, täglich und ausgiebig) gibt es viel frisches Grün und damit einen reich gedeckten Tisch auch für die Nachkommen der Locusts. Die Regierung wird dafür verantwortlich gemacht, dass man das Problem zu lax angegangen hätte, zu Beginn wäre es noch möglich gewesen, biologische Mittel einzusetzen, aber jetzt wird Gift gespritzt, alles Chemikalien, die in Europa längst verboten seien. Zudem dienen die proteinreichen Heuschrecken als Nahrungsquelle. Wie, fragt sich nicht nur die Zeitungsredaktion, sind die Menschen auf dem Land informiert worden, wo gespritzt wurde? Was zu beachten ist? Welche Heuschrecken kann man noch essen? Welche nicht? Wie schnell wird das Gift abgebaut? Viele offene Fragen…

( Mehr über German Doctors und unsere Projekte unter: http://www.german-doctors.de )


3 Kommentare

Back to work…

Zurück zu meinen Patienten – steiler Einstieg in eine volle Woche (am 12. postop. Tag). Alle freuen sich, dass ich wieder da bin, die einheimischen Mitarbeiter fragenimmer wieder, wie es geht, lassen mir ein Höckerchen im Verbandsraum frei, dass ich nicht die ganze Zeit im Stehen schreiben muss, eine der Schwestern aus der Triage sagt, sie schätzten sehr, dass ich mit den Patienten helfe, obwohl ich noch nicht wieder so fit sei. Das tut gut und man fühlt sich gleich fitter…

Wie immer ist unser Spektrum bunt und vielfältig, vom Insekt im Kinderohr, das herausgespült werden muss über die vielen Gipse (einige sind bereits seit zwei Wochen überfällig, weil ich nicht da war und keiner sonst sich berufen fühlte, sich in die Akten hineinzuarbeiten) bis zu akuten Bäuchen und noch viel mehr.  An einem Mittag denke ich, ich mache mal für 10 Minuten die Tür und die Augen zu, aber die vielen Patienten vor der Tür wissen, da ist eine Doktorin drin, und die kann eigentlich nur fit sein und ist dafür da zu helfen, und so wird immer wieder die Klinke heruntergedrückt und geklopft.

Rufus, 38 Jahre alt, stellt sich mit einer grotesk geschwollenen Oberlippe vor. Bei genauerem Betrachten zeigt sich, dass es ein praller Abszess ist. Wir erklären ihm, dass unbedingt der Eiter raus und zugleich ein Antibiotikum über die Vene gegeben werden muss, weil die Nähe zu den in den Kopf eintretenden Gefässen ein grosses Risiko beinhaltet. Kein Problem, Rufus positioniert sich cool auf der wackeligen Liege im kleinen septischen OP, aber als die Schwester sich mit der Nadel für den intravenösen Zugang nähert, geht garnichts mehr. Der Patient springt auf, wedelt wild mit den Armen, nein, keine Spritze, auf keinen Fall! Verschiedene der sich einfindenden einheimischen Mitarbeiterinnen versuchen mehr oder weniger laut, ihn zu überzeugen, und ich frage mich: warum? Schlechte Erfahrungen? Aberglaube? Hätte der Witchdoctor etwas einzuwenden? Einfach nur Weichei?

Wir bitten die Vertretung der Headnurse dazu, die mit etwas mehr Sanftmut, aber nicht ohne Taktik an die Sache herangeht, und schliesslich ist Rufus doch bereit, sich auf den venösen Zugang einzulassen. Er habe halt eine Spritzenphobie, wird mir erläutert. Maximal angespannt, die Hand vor die zusammengekniffenen Augen gepresst, übersteht er die Prozedur des Nadellegens dann gerade so.

Ich habe schwere Bedenken, wie es werden wird, wenn ich erst den Abszess eröffne, und bitte vorsichtshalber einen unserer starken Männer dazu, es kommen, vorgewarnt von den Schwestern, gleich zwei, man weiss ja nie, aber dann zuckt Rufus nicht mit auch nur einer Wimper. Da habe er keine Probleme, meint er, jetzt wieder ganz der Coole, ein Schnitt, keine grosse Sache. Nur eben, die Nadeln… Während Inzision, Ablaufen grösserer Mengen Eiters und ausführlicher Spülung  geht dann alles sehr entspannt zu, auch der zweite starke Mann ist längst wieder nach draussen verschwunden.

Patienten in diesen Tagen in ein Krankenhaus zu verlegen, ist nicht ganz einfach, egal, wie schwer krank sie sind. Eines der grösseren Häuser hat Fisteloperateure zu Gast und kann neben deren Patienten keine weiteren mehr aufnehmen, zu zweien unserer anderen grossen Referalhospitals können Patienten nicht mehr mit der Ambulanz gebracht werden, weil es sich (was früher keinen störte) um einen anderen Stadtteil handelt, die Kranken sollen sich selbst auf den Weg machen…

 


3 Kommentare

Kenyatta Hospital

Bewusst wollte ich „einfach so“ kommen, ohne Termin oder vereinbarte Führung. Wie oft habe ich Patienten sagen hören „bloss nicht in dieses Krankenhaus!“ Warum nur? Schliesslich ist es die Uniklinik, unser wichtigstes Überweisungshospital. Die Schwestern  im dressing room sagen: „Wenn man dorthin geschickt wird, muss es sehr schlimm um einen stehen. Sozusagen kurz vor’m Sterben. Meinen die Patienten. “ Und die langen Wartezeiten werden angeführt, die Scharen von Patienten. Und dass man in der Menge verloren gehe, ja, im Flur sterben könne, ohne dass es jemand merkt. Und, wenn man die Wartezeit überlebt habe und dann endlich gesehen worden sei, dann schnell wieder nachhause geschickt wird…

Am Sonntagmorgen breche ich auf, um mir ein Bild zu machen. Ausserdem möchte ich nach einem Patient mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma sehen, den wir vor einer Woche eingewiesen haben: ein junger Mann, bei dem im CT eine Hirnblutung gesehen wurde. Das einzige, aber gewichtige Problem dabei: ich habe mir den Namen nicht notiert im Rahmen der Überweisung. Ich hatte nicht wirklich mit einem so gravierenden Befund gerechnet, und der Patient wurde vom CT aus sofort in die Klinik gebracht.

Der riesige, farblich in die Jahre gekommene Gebäudekomplex wirkt auf den ersten Blick klotzig und düster. Und gleich am Eingang der Notaufnahme herrscht Ausnahmezustand: die Lady am Registration Desk ist ausser sich, sie weint und betet laut, gerade wird eine Trage mit einem Leichnam heraus gefahren, auf dem Boden eine Blutlache. In der grossen, aber niedrigen Eingangshalle warten zahllose Patienten auf Stühlen und Tragen, ein Überwachungsgerät-Pfeifkonzert liegt über der schweigenden Menge, alle durch Plastikvorhänge abgetrennten Sprechzimmer sind belegt. Durch den verwinkelten Eingangsbereich hindurch geht es am OP vorbei in das Innere des Gebäudes, zunächst in einen hellen Flur mit wandfüllenden Mosaiken, die von den Schülern verschiedener Schulen im Land aus Kachel-, Spiegel- und Glassplittern gefertigt wurden. Sie sind festlich, bunt und schön: Dschungeltiere grüssen, Landschaften, gute Wünsche, eine Frau mit Maispflanzen, Sonne, Mond und Sterne.

Vom diesem langen Hauptgang gehen verschiedene Wege ab: zur Antikorruptionsbox, zum Fotokopierraum, vor dem eine lange Schlange von Patienten und Mitarbeitern wartet und zum Department Recovery nach Gewaltverletzungen. Ich biege auf den Weg zu den Stationen ab.

Das zentrale Treppenhaus ist wieder eher düster, eine Baustelle: Holzstapel liegen herum, es riecht nach Urin. Von irgendwoher weht Gesang herüber, ein flottes Kirchenlied, in dem die Sonne scheint.Im 2. Stock findet gerade ein Gottesdienst statt für die Patienten. Ein freundlicher Wachmann zeigt mir den Weg. Alle Plätze sind mit Patienten und deren Angehörigen besetzt. Auf dem Rückweg vom Churchservice zum Treppenhaus fangen mich zwei kleine Jungs in Krankenhausschlafanzügen mit Bärenmuster ab. Sie wollen Hände schütteln. Es gehe ihnen schon viel besser nach der OP, sie zeigen mir ihre Bauchpflaster.

Die Anzeigetafel neben den Fahrstühlen zeigt die spezielle Chirurgie im 4. und 5. Stock. Eigentlich ist keine Besuchszeit und auf manchen Fluren stehen Schilder „please wait, procedures in progress“. Aber vor mir marschieren auch andere Besucher beherzt daran vorbei. Auf 5A frage ich eine freundliche Schwester nach unserem Patienten. Sie schickt mich nach 5B. Auch hier ein heller, sauberer Flug, die Zimmer ähnlich wie auf der anderen Station, ein Aufenthaltsraum mit Fernseher, aus dem eine füllige Lady gerade einen Gospelsong schmettert, ein grosses, bunt gestaltetes Zimmer für die Kinder zum Spielen.

Auch die Schwester von 5B ist freundlich und erklärt, es gebe ein Zimmer mit Gesichtsverletzungen, aber von dem besagten jungen Mann wisse sie nichts. Ich solle auf 4B und C schauen, der Neurochirurgie. Auf 4C informiert mich eine wiederum sehr hilfsbereite Schwester, dass 4B richtig sei, B for boys. Auf 4B schliesslich fragt die zuständige Schwester detailliert nach Vorgeschichte und Patient, schaut in zwei Zimmern nach, fragt die Patienten, ob einer aus Baraka überwiesen worden sei und schickt mich dann in den 6. Stock. Ohne Namen könne es allerdings schwierig werden. Doch wie schön, dass ich den Patient besuchen käme! Ich staune über so viel Geduld und Freundlichkeit gegenüber meiner Schusseligkeit und schlechten Vorbereitung dieser Aktion und beschliesse, nun nicht weiter zu stören. Schade, dass ich den Patient nicht gefunden habe. Vielleicht ist er schon wieder entlassen worden?

Wieder zurück aus dem verschlungenen Innenleben der Klinik gehe ich zum Ausgang zurück, wo wieder Normalität eingekehrt ist. Die Blutlache ist verschwunden, die aufgeregte Lady wieder konzentriert bei der Sache. Es ist ruhig, die Sonne scheint, und in dem kleinen Park vor der Ambulanz liegen und sitzen Patienten und Besucher im Schatten der hohen alte Bäume. Aber jetzt hat mich eine Watchlady entdeckt. Ob ich jemand besuchen wolle? Meine Papiere? Ihr Walkietalkie knattert. Sie schickt mich mit strengem Blick zur Verwaltung, dort solle ich einen Termin zur Besichtigung machen und mir das entsprechende Türöffnungspapier besorgen. Ich erzähle ihr ein bisschen, warum ich einen Blick in die Klinik werfen wollte und wie gut mir die Mosaiken gefallen haben. Sie lächelt, jetzt doch noch, aber bevor ich noch einmal käme, solle ich mir die schriftliche Erlaubnis holen.

Zum Glück habe ich nun schon einen eindrücklichen und positiven Eindruck erhalten: ein sauberes, bewusst gestaltetes Krankenhaus, Ordnung, Freundlichkeit, kleine Patientenzimmer mit maximal 6 Betten. Soweit von aussen ersichtlich, stimmen zumindest schon einmal die Vorzeichen. Auch das Motto „we care and listen“, das von den schwarzen Brettern in Treppenhaus leuchtet, ein guter Arbeitstitel. Nun kann ich zumindest meinen Patienten in dieser Hinsicht Mut machen, wenn sie sich nicht mit einer Überweisung anfreunden können…

 


8 Kommentare

Jumanne – Dienstag

Gleich am Morgen um 8 Uhr wartet der erste Patient vor der Tuer meines Sprechzimmers: einer der kenianischen Mitarbeiter mit gerissener Strecksehne am Zeigefinger seit 2 Wochen. Die Schiene hat er zuhause gelassen. Er erhaelt eine neue Schiene (Bastelprojekt aus einem Holzstaebchen mit Mull) und die dringende Ermahnung, sie nicht mehr abzunehmen fuer die naechsten 4 Wochen. Es geht weiter mit einer Neunjaehrigen nach Fremdkoerperentfernung aus der rechten Hand, gut heilend. Es folgen: eine aeltere Dame mit Knieschmerzen seit Monaten; ein weiterer Strecksehnenabriss, allerdings schon 4 Wochen alt (da nutzt auch die Schiene nichts mehr); ein chronisches Beinulkus, 20 cm breit, einmal rund ums Bein herum; ein chronisches Beinulkus, 5 cm Durchmesser; ein chronisches Beinulkus, 15cm Durchmesser; ein tiefes Beinulkus, das ausgeschnitten werden muss; eine alte Wunde am Bein zum Ausschneiden; eine fast frische Wunde am Knie; ein traumatisches Beinulkus, das gut heilt; eine Verbrennung bei einem Kind ( re. Arm); eine junge Frau, die eben einen Eimer heissen Tee ueber den Oberkoerper bekommen hat (Verbrennungen Grad 2a); ein Kind mit Verletzung im Bereich der Wachstumszone des Ellbogens ( das ueberwiesen wird); ein sehr magerer Mann nach Sturz mit Verdacht auf Tuberkulose und Alkoholabhaengigkeit (den wir zur Beraterin schicken, auch, um zu klaeren, ob man ihn ins Ernaehrungsprogramm aufnehmen kann); ein Mann nach Motorradunfall mit Bruch von  Kniescheibe und Handgelenk; ein junger Mann mit so stark verschobener Ellbogenfraktur, dass wir ihn ueberweisen (am Nachmittag ist er wieder da, die Klinik hat ihn nicht angenommen. Nur: warum haben sie ihn nicht gleich in das naechste Krankenhaus geschickt, in das wir ihn nun bitten zu gehen?); ein Kind mit gebrochenem Arm und eines mit gebrochenem Bein; ein junge Frau nach Plattenverschraubung am Ellbogen ( eine Schraube und ein Teil der Platte haben sich durch die Haut nach aussen gearbeitet und liegen frei ( nichts wie raus damit!!!), aber sie will erst noch sparen, bevor sie zur Materialentfernung gehen kann); ein Mann mit verletztem Ellbogen, der noch zum Roentgen muss; eine ausgekugelte Schulter bei einem kraeftigen jungen Mann, die sich erst nach einer Portion Valium wieder einrenken laesst;  ein Tumor am Ohr; ein Lippendurchbiss nach Sturz; eine Verbrennung am Unterschenkel mit dicken Narbenzuegen; ein vereiterter Finger; ein tiefes, chronisches Beinulkus mit 3x Verbandswechsel pro Woche seit 4 Jahren mit starken Schmerzen ( der 40jaehrige braucht Beratung, wie es weiter gehen kann, waere eine Amputation eine Alternative?); ein traumatisches Beinulkus bei einem Kind; ein eitriges Beinulkus bei einer 30jaehrigen; ein Beinulkus mit Verdacht auf Hautkrebs bei einer 50jaehrigen (der wir schon letztes Jahr zweimal in der Woche versucht haben, den Einstieg in die Krankenversicherung nahe zu bringen – ohne Erfolg bisher); eine Lady mit Bauchweh und gut tastbarer, harter, runder Struktur im Unterbauch ( ab zur Gynkollegin, die eine Schwangerschaft im 7. Monat findet); ein junger Mann mit Hautausschlag; eine junge Frau mit Kopfweh und Beinschmerz; ein Mann mit Guertelrose (der halbe Oberkoerper ist betroffen); ein junger Mann mit schlecht verheiltem Unterarmbruch und grosser Narbenplatte; eine Sechzehnjaehrige nach Hauttransplantation mit zahlreichen Metallklammern im schon laenger geheilten Areal (der Klammerentferner wird sich erst in drei Tagen finden, aber sie kommt ja alle  drei Tage zum Verbandswechsel der noch offenen Stellen); eine 60jaehrige mit Ganzkoerperschmerz; ein junger Mann mit 7cm grossem Tumor mit Stiel, der an der Bauchdecke haengt (und vom Patient ueblicherweise in ein Taschentuch verpackt wird); ein Kind mit akuter Mandelentzuendung; eine Frau mit Bauchweh und Blaehungen (wir versuchen, ihr Kuemmel nahe zu bringen, den sie nicht kennt); und ein weiterer vereiterter Finger.

Zwischdurch vier Scheiben Toastbrot mit Tomate, zwei Bananen und viel Wasser. Unbezahlbar und zusaetzlich kiloweise Gold wert, dass meine diesjaehrige Uebersetzerin eine je gute Portion Humor und Engagement hat, und unerschuetterlich die Patienten freundlich fragt, was sie zu berichten haben. Ueberhaupt lacht Jane Rose ausgesprochen gern. Und wenn jemand waehrend einer Behandlung Schmerzen hat, sagt sie schonmal „let me give you a bit of love“ und haelt Hand. Das freut nicht nur die Patientin.

(Danke an die Kollegin Claudia fuer das Foto!)

…mehr über das Projekt unter

https://www.german-doctors.de/de/projekte-entdecken/nairobi